Der fliegende Holländer, Theater Mönchengladbach (5.11.2022)

Eine Pause im fliegenden Holländer nach dem 1. Akt (in der von Wagner nachkomponierten Fassung) lässt den Wagnerianer erstmal etwas missmutig vor der Aufführung auf das kommende blicken, selbst wenn der Übergang vom 2. zum 3. Akt dann in Wagners Originalfassung gespielt wird. Aber in Mönchengladbach wird schnell klar: die Pause braucht man, da Roman Hovenbitzers Inszenierung zu belastend ist, um alles geballt zu sehen. Hinzu kommt die runde und packende musikalische Umsetzung, famos geleitet durch den Kapellmeister Sebastian Engel. So wird man schon während der Ouvertüre in den Bann gezogen in einen Psychokrimi, der die Zuschauer:innen durchgehend gefangen nimmt.

So begeistert die Aufführung in Mönchengladbach mit einer packenden szenischen Umsetzung, die die Geschichte ebenso konsequent erzählt wie die Interpretation Sentas Seelenlebens. Das handwerkliche Geschick zeigt sich auch an der Arbeit mit Objekten wie der Puppe oder dem Leichentuch, die nicht nur in einem Moment gezeigt werden, sondern über das Stück hinweg auserzählt werden. Auch Dalands Liebschaft mit Mary wird nicht nur anfangs angedeutet, sondern durch das Stück hindurch erzählt (z. B. im 2. Aufzug, wenn Daland über des Holländers möglicher Liebschaft mit Senta spricht und dabei Mary schöne Augen macht). Zwar ist etwas zweifelhaft, ob der Holländer zum Ende wirklich so ein enger Teil der Gesellschaft werden kann und Erik wirkt in der Inszenierung etwas als Fremdkörper, aber das sind Kleinigkeiten, die im Gesamtbild keine Rolle spielen.

Den „Holländer“ als eine Geschichte von Kindesmissbrauch zu inszenieren, ist nicht neu (man erinnert sich z. B. an Claus Guth in Bayreuth oder, hier sehr deutlich, an die beeindruckende alte Inszenierung in Karlsruhe). Wenn es so packend und konsequent, wie von Roman Hovenbitzer inszeniert wird, dann wird deutlich, wie logisch eine solche Auslegung ist. Hier: Daland interessiert sich nicht für den Tod seiner Gattin, so hat er mehr Raum für seine Liebschaften, u. a. mit Mary – dazwischen steht nur noch seine Tochter, die endlich heiraten soll, so dass er nicht mehr von ihr belästigt wird. Sie soll endlich mit ihrer Puppe im Hochzeitskleid spielen, statt mit ihren Piratenkostümen. Dass Dalands Mannschaft, insbesondere der Steuermann, sich an seinem Kind vergeht, will Daland nicht merken. Die traumatisierte Frau träumt sich teils in ihre andere Welt, blickt teils vom Bühnenrand auf ihre Kindheit zurück.

Das Auftreten des Holländers wird dementsprechend zur vermeintlichen Rettung Sentas, das vom Holländer im 1. Aufzug genutzte weiße Leinentuch, das er für sich zu nutzen wünscht, wird für Senta im Duett des 1. Aufzugs zum ersehnten Brautschleier. Im dritten Akt fügt sich alles zusammen, Senta, der Holländer und seine Mannen werden in die Gemeinschaft aufgenommen (oder ist es umgekehrt: wird Dalands Gesellschaft insgesamt zum „Geisterchor“?). Daland kann die Hochzeit nicht erwarten und fährt Sentas alte Kinderpuppe im Kinderwagen rein, und – als der Geisterchor beginnt – brechen Sentas Traumata aus ihrer Kindheit wieder hervor. Der Holländer findet gefallen an der bürgerlichen Gesellschaft, er schaut nach anderen Damen aus dem Chor, vergnügt sich mit einer Stripperin, Senta rückt aus dem Bewusstsein. Als der Holländer nicht auf Sentas Versicherung, ihn zu kennen, eingeht, ist es für Senta genug. Die Gesellschaft wird von ihr verstoßen, die Gemeinschaft mit ihrem jungen Selbst ist ihr ausreichend, sie wird frei und kann in ihre eigene, selbstbestimme Zukunft reisen – physisch oder psychisch, wer weiß das schon…

Auf einem vergleichbar hohen Niveau bewegt sich der musikalische Teil, so dass Musik und Szene sich passend vereinen. Aus dem Graben des tollen Orchesters ertönt ein wunderbarer „Wagner-Sound“, packend und intensiv durch Sebastian Engel dirigiert. Auch der stimmgewaltige und spielfreudige Chor mit Extra-Chor tragen mit beeindruckender Präsenz zum Gelingen des Abends bei. Dass an dem Abend auch mal etwas schiefgeht, z. B. die Bandeinspielung des Geisterchors ausfällt, spielt in der Wucht des Abends keine Rolle.

Die Solisten überzeugen durchweg. An erster Stelle soll Oliver Zwarg als Luxus-Einspringer (für den erkrankten Johannes Schwärsky) genannt werden, der mit seiner weichen und melodischen Stimmführung den Holländer intensiv und berührend gestaltet. Ein sehr fragiler, fragender Holländer, so schön und harmonisch gesungen. Mit Ingegjerd Bagøien Moe hat Zwarg eine Partnerin zur Seite, die stimmgewaltig und mit großer Spielfreude die Senta intensiv gestaltet, eine klasse Senta! Auch Matthias Wippich beeindruckt als Daland mit seinem sonoren Bass, seiner stimmlichen wie persönlichen Präsenz und seiner intensiven Rollengestaltung. Abgerundet wird das Ensemble durch Eva Maria Günschmann als präsente Mary (was für ein „Halt, halt!“ im 2. Akt!), Ralph Ertel als melodischen und intensiv gestaltenden Erik sowie Woongyi Lee als stimmschöner, leicht-liedhafter Steuermann.

Es gibt noch verschiedene Aufführungen bis Anfang Januar. Unbedingt reingehen!

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Götterdämmerung, Bayreuther Festspiele 2022 (Premiere, 6.8.2022)

In der Trash-TV-Sendung „Die Geissens“ erlebt der Zuschauer das Leben einer reichen, wohlstandsverwahrlosten und prolligen Familie, was Valentin Schwarz – nach dem ersten Aufzug der Götterdämmerung zu urteilen – zu seiner Ring-Inszenierung inspiriert hat. Dabei denken wir natürlich gleich an das Rheingold und die Walküre, wo ebenfalls eine reiche Familie zu sehen ist, so dass sich der Ring zur Götterdämmerung schließt. Nur: Was interessieren uns „die Geissens“?

An der Götterdämmerung zeigt sich erneut, dass Valentin Schwarz nicht in der Lage ist, Interesse an den Figuren zu wecken. Zu fern ist dem Zuschauer (wie auch den Regisseur) die dargestellte Welt, zu fremd die Akteure und ihre Handlungsmotivation.  Irgendwelche (neu eingeführten) Figuren machen irgendwas, vieles erschließt sich nach dem Lesen des Programmhefts, dem Anhören des (interessanten) Einführungsvortrags und des (gut gemachten) Podcasts sowie der anschließenden Diskussion, wer was gesehen hat und was wie gemeint gewesen sein könnte. Aber ist das ausreichend für eine Theateraufführung, zumal auf dem deutschen »Kultur-Olymp«? Sollte das Theater nicht zu allererst eine Verbindung mit den Zuschauer:innen aufbauen, Interesse für die Handlung und die Figuren wecken und verdeutlichen, warum man die 15 Stunden sehen und hören möchte? Wenn Gutrune auf Brünnhilde einprügelt oder Hagen Grane foltern lässt und ihm den Kopf abschneidet, wenn man also keinerlei Verbindung zu den Charaktern empfindet, dann wünscht man sich wenigstens eine klar strukturierte Interpretation. Das löst Schwarz aber nur in einzelnen Momenten in den vier Abenden ein, größtenteils lässt es einen einfach völlig kalt und berührt nicht.

Braucht man dem Wagnerianer liebe Artefakte und Handlungen wie den Ring an verschiedenen Händen, das Schwert Nothung, eine Schmiedeszene, einen Feuerzauber für eine gelungene Ring-Aufführung? Natürlich nicht, man kann auf alles verzichten – wenn einen überzeugenden Gegenentwurf präsentiert und verdeutlicht, weshalb man darauf verzichtet. Schwarz hat zwar Spaß daran, die „Symbole“ wegzulassen oder Handlungsstränge gegen den Strich zu bürsten – vielleicht auch, weil er die vermeintlich so konservativen Wagnerianer ärgern will. Aber die am Ende der Aufführung lautstark bekundete Verärgerung entsteht für den Zuschauer (sei er Wagnerianer oder nicht) doch vor allem daraus, dass keine vernünftige Alternative präsentiert wird, kein schlüssiges Ring-Konzept. Am gravierendsten gerät, dass der verkopfte Überbau auf keiner sinnvollen Personenführung aufbaut (besonders deutlich z. B. bei Hagens Mannen im 3. Aufzug, die reinkommen, sich irgendwie hinlegen und ca. 45 Minuten später wieder aufstehen oder wie die Rheintöchter und Siegfried zu Beginn des dritten Aufzugs gemeinsam rumstehen und ins Publikum singen uswusf.). Wenn sich am Schluss der Götterdämmerung die Auflösung der zahllosen Nebengeschichten darauf beschränkt, dass sich die Kinder im Mutterleib, die wir im Rheingold-Vorspiel sahen, vertraut und lieb aneinanderkuscheln, aus dem ständigen gegen-den-Strich-bürsten plötzlich ein platter Kitsch wird, dann wird schmerzhaft deutlich, wie banal diese Regiearbeit ausgefallen ist.

In vielen Facetten aufregend ist hingegen der musikalische Teil des Kunstwerks geraten. Allem voran natürlich endlich der famose Festspielchor, der auch weiterhin als einer der weltbesten (oder der beste?) Opernchor begeistern kann. Leider scheint die Regie mit dem Kollektiv nicht viel anfangen zu können, die Sänger:innen werden in engen Kutten versteckt und auf eine feingearbeitete, individuelle Personenführung wird verzichtet, obwohl der Chor doch im Castorf-Ring in Nahaufnahme gezeigt hat, wie engagiert und spielfreudig er ist. Aber das macht der Chor locker wett und begeistert durch die detaillierte musikalische Gestaltung wie eh und je. Nach der in diesem Jahr – nach Angaben der Festspiele – coronabedingt verminderten Größe freuen wir uns für das nächste Jahr wieder auf die alte Besetzungstärke. Das Dirigat von Cornelius Meister hat sich über die Abende deutlich gesteigert, auch die Götterdämmerung gerät flüssig und weniger stückhaft als zuvor. Als sich bei Brünnhildes Schlussgesang endlich ein großer, emotional mitreißender Bogen einstellen will, ruiniert Meister leider alles, indem er eine so riesenhafte wie unnötige  Generalpause einbaut – das Aufgebaute fällt zusammen und die musikalische Seite wird es so flach wie die Szene.

Auch die Sänger:innenbesetzung des Rings war von verschiedenen Herausforderungen höherer Gewalt und Erkrankungen geprägt, so dass diesmal gleiche Rollen durch verschiedene Sänger:innen besetzt werden mussten. Kurzfristig traf es den geschätzten Stephen Gould, der leider erkrankt war, ebenso wie – laut Meldung von BR-Franken – sein Cover Andreas Schager, der sich ebenfalls angeschlagen gefühlt habe. Der kurzfristige Einspringer Clay Hilley machte seine Sache hervorragend; eine kraftvolle, helle und gut geführte Stimme, der eine große Freude bereitet, auch wenn noch nicht alles gelang, was angesichts des kurzfristigen Einspringens nur zu verständlich ist. Irene Theorin als Brünnhilde konnte leider nicht auf diesem Niveau mithalten, zwar mit präsenter und intensiver Gestaltung, zugleich aber verwaschen und textunverständlich. Stark hingegen Albert Dohmen als Hagen, der zwar szenisch hölzern (wie schon im letzten Ring) spielt, aber doch selbst in seinem Alter stimmgewaltig und intensiv die Rolle gestaltet. Stark besetzt die Nebenrollen: Michael Kupfer-Radecky überzeugt als spielfreudiger und gesanglich intensiver Gunther; Elisabeth Teige macht die Gutrune zu einer echten Hauptrolle, Olafur Sigurdarson bleibt auf seinem bekannten Niveau. Die Waltraute von Christa Mayer klingt demgegenüber etwas verwaschen, was aber vielleicht auch an dem hier zähen Dirigat lag. Auch die harmonischen Nornen und Rheintöchter sind auf der Haben-Seite zu buchen.

Insgesamt also ein Ring, dem man die Strapazen der letzten Jahre (Zerschlagen der Pläne um Regisseurinnen, Corona, erkrankende Sänger usw.) anmerkt. Sicherlich wird sich das noch festigen und in den nächsten Jahren einspielen, selbst wenn man schon mit Vorfreude auf einen neuen Ring 2026 zum 150-jährigen Jubiläum der Uraufführung schielt.

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Siegfried, Bayreuther Festspiele 2022 (Premiere, 3.8.2022)

Nun ist er schon wieder fast beendet, der neue Ring – Wagners zu kurz geratenes Meisterwerk, das bei einer mittelmäßigen Aufführung aber sehr lange werden kann, wie man gestern in Bayreuth erleben konnte. Nachdem man den ersten beiden Abenden viel Positives abgewinnen konnte, überrascht nun Cornelius Meister mit einem zupackenden Dirigat und gutem Zusammenspiel mit dem Orchester, während die Solisten leider schwächeln und die Inszenierung vielen Zuschauern den letzten Nerv raubt. Der Siegfried ist (wundersamerweise) beim Publikum der wohl unbeliebteste Ring-Teil und er dürfte der am schwierigsten zu inszenierende Ring-Abend sein, an dem schon viele Regisseure gescheitert sind.

Viel wurde die neue Inszenierung von Valentin Schwarz mit Netflix-Serien verglichen. Das ist vielleicht dann treffend, wenn man die Serie „Freud“ heranzieht, die halbwegs interessant beginnt, dann aber in einen strukturlosen, die Handlungsarmut durch abstruse Effekte überspielenden Splatterporno abgleitet, die vermutlich nur (dafür bezahlte) Kritiker bis zur letzten Folge schauten. Auch Schwarz hat sich viel überlegt und versucht, neue Ideen und Zweithandlungen in die Szene einzubauen, was als Konzept vielleicht überzeugen konnte. Ein Konzept ist aber noch keine Umsetzung, wie wir in den Tagen zuvor bei interessanten Diskussionen im Regie-Symposium in Haus Wahnfried in verschiedenen Facetten diskutierten. Neben dem Konzept bedarf es auch der Umsetzung auf die Bühne, die vor allem Handwerk bedeutet. Und Schwarz mangelt es leider an grundlegenden handwerklichen Fähigkeiten, eine Inszenierung auf der Bühne in einer logischen und den Abend tragenden Art und Weise umzusetzen. Die konzeptuellen Ideen mögen interessant sein – und es gibt viel Innovatives dabei, wie z. B. die QR-Codes im Programmheft, über die die Geschichte online weitererzählt wird – aber auf der Bühne bleibt eigentlich nichts davon übrig.

Der „Siegried“ wird so leider zum Flop. Der erste Aufzug gerät uninteressant und willkürlich. Siegfried hat wohl Geburtstag, was sich nur an Girlanden und Luftballons, nicht an Interaktion der Protagonisten zeigt. Es gibt eine chaotische Wohnung, ein Kasperltheater. Es gibt ein paar Puppen, die Siegfried mit dem Schwerz malträtieren wird, weil er von seiner schlimmen Kindheit traumatisiert ist (wie originell). In der Schwertschmiedeszene passiert eigentlich nichts, Nothung ist erst kaputt im Aquarium, dann wird eine Krücke aus einem Paket geholt, aus der dann Nothung rausgezogen wird, dann ist wieder die Pistole da, dann ist der 1. Aufzug beendet. Die gravierenden handwerklichen Mängel zeigen sich dann umso mehr im 2. Aufzug: Fafner als alter Mann im Krankenbett, der auch kurz vor dem Tod auf seinem Geldhaufen sitzt und nur seinen Reichtum mehrt, statt sich um nachfolgende Generationen zu sorgen? Das kann man schon machen. Aber dann muss man es konsequent umsetzen und weiterspinnen. Stattdessen kämpft Siegfried gegen Fafner, indem er ihm grundlos den Rollator wegzieht, dann kurz erschrocken tut – und dann ist Fafner auch schon tot. Zwei stumme Figuren, Fafners Pflegerin und Pfleger tun irgendwas, der Pfleger schaut böse nach vorne (zu Siegfried? zu Fafner? ins Publikum?) und wirft etwas aufs Bett. Die Pflegerin zieht ihre Schürze aus und wirft sie wütend in der Gegend herum. Ist sie auf Siegfried wütend, weil er ihren Arbeitgeber umgebracht hat? Sie ist wohl auf Fafner wütend und froh, dass er tot ist, weil er sie zu Beginn des 2. Aufzugs einmal sexuell belästigt hatte (wenn man in diesem Moment gerade woanders hingeschaut hatte, versteht man es nicht mehr). Diese Nebenhandlung ist so merkwürdig, da Fafner/Siegfried vorne an der Rampe stehen, die Nebenfiguren aber weit hinten und Schwarz es nicht schafft verständlich zu machen, wer mit wem warum agiert. Auch die Szene vor Mimes Ermordung bleibt strukturlos und banal, indem die Sänger einfach auf dem Sofa sitzen und nach vorne sehen, es findet keine Interaktion untereinander statt. Nicht besser wird es dadurch, dass „das Rheingold“ in Form des Jungen, der zum jungen Mann heranreifte, danebensitzt. Auch er lief schon zuvor in der Gegend herum, aber wir wissen nicht, warum er das tat und was er da so machte. Der 3. Aufzug gerät dann endlich weniger schlimm, – man langweilt sich nur noch, statt sich zu ärgern. Wobei dann wieder Erda eine Pistole an Wotan reicht und ihn zum Selbstmord auffordert, obwohl Erda bekanntlich nicht wendet und wandelt, sondern nur zur Kenntnis nimmt. Da Schwarz aber die Regie zurücknimmt und die Sänger:innen singen lässt, wird es nach dem Vorherigen deutlich angenehmer.

Leider ist auch das sängerische Niveau nicht so, wie wir es aus Vorabend und erstem Abend kannten. Andreas Schager brüllt sich durch die Aufzüge, was im ersten Aufzug noch irgendwie erträglich ist, ab dem zweiten aber nicht mehr, da ihm Piano und Mittellagen fehlen und die Spitzentöne ständig danebengehen und die Vokale verrutschen (Monn statt Mann usw. – wie wohltuend im Vergleich dazu Alexandra Steiner als Waldvogel). Arnold Bezuyen, in Bayreuth seit vielen Jahren in kleineren Rollen sehr geschätzt, keift sich durch den Mime, bleibt unverständlich und verwaschen, was zu der Charakterpartie einfach nicht passen mag. Tomasz Konieczny singt wie bekannt: mit beachtlichem Volumen, aber sehr unangenehmen Vokalverfärbungen, das Wotan-Format fehlt ihm leider. Olafur Sigurdarson gefällt wieder als stimmgewaltiger Alberich, bei dem man sich aber mehr Textverständlichkeit wünschen würde. Überzeugen können aber Okka von der Damerau als dunkle und vielschichtige Erda und Wilhelm Schwinghammer als sonorer und präsenter Fafner. Daniela Köhler ist eine erstklassige Brünnhilde, wohlklingend und textverständlich. Heil uns, dass sie den Abend rettet.

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Die Walküre, Bayreuther Festspiele 2022 (Premiere, 1.8.2022)

Der erste Abend des neuen „Rings“ nach dem gestrigen Vorabend ist vollbracht, die Walküre vorbei und der ganze Ring leider fast schon wieder vorbei. Das Highlight vorweg: im 3. Aufzug findet sich ein größerer Spiegel auf der Bühne, der es teilweise gestattete, in der Spiegelung dem Souffleur Lucio Golino zuzusehen. Es war bewegend, der detailgetreuen Unterstützung der Sänger:innen zuzusehen und das lautmalerische Mitdirigieren zu erleben.

Der Ring nimmt an Fahrt auf, was vor allem einer Reihe von exzellenten Sänger:innen zu verdanken ist. Im ersten Aufzug begeistern Georg Zeppenfeld als sonorer, klarer und bösartiger Hunding und Lise Davidsen als präsente Sieglinde, mit einer bombigen Mittellage, über die sie Tiefen und Höhen eindrücklich erreicht. Auch Klaus Florian Vogt kann begeistern, selbst wenn ihm die Partie eigentlich zu tief liegt und mancher große Bogen mit mehr Wucht zu wünschen wäre. Aber die Stimme hat in den letzten Jahren an Grundierung gewonnen und schöner kann man Siegmund eigentlich nicht singen. Dirigat und Orchester brauchen bis zum dritten Aufzug, um in Schwung zu kommen, das Kammerspiel des 1. Aufzugs gerät noch verwaschen und zu mild.

Auch im Weiteren wird auf hohem Niveau gesunden. Christa Mayer ist eine präsente Fricka, teils etwas metallisch, aber vor allem in den Höhen beeindruckend. Iréne Theorin als Brünnhilde ist stimmlich präsent mit großem Volumen, leider sehr textunverständlich und verwaschen klingend, eine großartige Sängerin, aber leider keine Idealbesetzung für die Brünnhilde. Tomasz Konieczny hat eine präsente Wucht, seine unangenehmen Vokalverfärbungen werden schnell besser. Leider verletzt er sich bei einem (vom Publikum als Regie-Gag vermuteten) Vorfall und muss nach dem 2. Aufzug abbrechen. Gute Besserung!! Im 3. Aufzug springt Michael Kupfer-Radecky als Wotan ein – und singt sich gleich in die Herzen des Publikums. Er singt einfach sensationell: eine Textklarheit und -verständlichkeit, wie man sie sonst nie hört (die mit seiner leichteren Stimme vielleicht nur dank der magischen Bayreuther Bretter möglich ist), zugleich lautmalerisch mit einer prägenden Rollengestaltung. Auch szenisch spielt er intensiv und macht den 3. Aufzug zu einem Highlight.

Szenisch häufen sich die Logik-Lücken. Der 1. Aufzug ist reichlich bieder und besteht vor allem aus dem Putzen des Sicherungskastens (Sieglinde schon schwanger, man denkt erst, von Hundig, was keinen Sinn ergeben würde, dann wird klar, dass Wotan der Vater sein muss, was nur wenig mehr Sinn hat). Im 2. Aufzug sind wir wieder in Walhalls Wohnzimmer (Freia hat Selbstmord begangen – da die Götter nun ihre Äpfel nicht mehr haben, müsste die Geschichte nun eigentlich zu Ende sein), in den großen Szenen Wotan-Fricka und Wotan-Brünnhilde interagieren die Protagonisten nicht miteinander, sondern mit dritten Personen auf der Bühne. Der Walkürenritt im 3. Aufzug ist wieder das aus dem Rheingold bekannte Chaos der zu eng und strukturlos platzierten Sänger:innen. Gegen Ende wird dann das Bühnenbild abgeräumt und Wotan steht allein auf der schwarzen, leeren Bühne im Lichtkegel – diese Minuten sind das Highlight des Abends, endlich kehrt etwas Ruhe ein und die Musik trägt uns zum Feuerzauber.

Heute ist nun der erste spielfreie Tag und damit Zeit, das Regie-Symposium in Haus Wahnfried zu besuchen.

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Das Rheingold, Bayreuther Festspiele 2022 (Premiere, 31.7.)

Was lange währt, wird endlich gut? Nachdem der neue „Ring“ 2020 corona-bedingt nicht aufgeführt werden konnte, ist es nun 2022 nach mehreren Ring-losen Jahren in Bayreuth endlich soweit und der Nachfolger des legendären Castorf-Rings erblickt das Licht der Welt. Das Licht der Welt erblicken auch zwei Kinder, die wir im Vorspiel in einer Videoprojektion sehen, die sich wohl schon im Mutterleib spinnefeind sind – Wotan und sein „Schatten“ (C. G. Jung) Alberich. Der Beginn einer großen spannenden Sage?

Die erste Szene beginnt in einem Pool mit Rheintöchtern und Kindern (toll gespielt von den Kinderstatisten!), in dem etwas geplanscht wird und Alberich dann das Rheingold (in Form eines Kindes) entwendet, anschließend finden wir uns in Wotans Walhall wieder, einer Villa mit Bewohnern im Stile von „House of Gucci“, garniert mit reichlich platter Kapitalismus-Kritik (Loge springt an Handy, die Götter lassen sich Schampus von Bediensteten kredenzen). Nibelheim ist eine Kinder-Aufzucht-Station, wohl in Anspielung auf eine Netflix-Serie (wie man anschließend von aktiveren Serien-Sehern erfahren kann), bevor es zurück in die Villa Walhall geht. Es werden verschiedene Symbole gezeigt, z. B. eine leuchtende Pyramide, die gegen Ende ein zentrales Utensil wird und der pädophil veranlagte Alberich scheint das Rheingold in Form des lebenden Kindes zu missbrauchen, verschiedene Mädchen werden als Humanmaterial herangezüchtet. Von anderen Zuschauern erfährt man nach der Aufführung, dass einzelne Kinder z. B. Hagen oder Brünnhilde sein sollen, ohne dass sich das aus der Szene heraus ergibt – und ohne, dass man ein besonderes Interesse für die Charaktere entwickeln würde.

Es passiert also zwar einerseits einiges auf der Bühne, andererseits passiert nichts. Die knappen 2,5 h ziehen sich wie Brei und das Interesse an den Figuren und ihren Handlungen schwindet denkbar schnell. Trotz aller Bedeutungshuberei bleiben die Charaktere auf der Bühne einem fremd, es wird keine Beziehung zwischen Publikum und Szene aufgebaut, so dass man schon ab der 2. Szene kein Interesse mehr daran hat, wie sich der Ring bis zur Götterdämmerung schließen wird. Die handwerklichen Mängel sind schwer in Worte zu fassen, da die Inszenierung zwar wohl durchdacht, dennoch denkbar dröge daherkommt. Beispielhaft sei genannt, dass bei Wotans „Lass ihn droh’n! Sahst du nicht Loge?“ plötzlich ein Diener auftritt, der von der Frage angesprochen wird und dann hektisch Loge sucht – vor der Frage haben wir ihn noch nicht gesehen, er taucht einfach auf, um von Wotan die Frage gestellt zu bekommen, ohne dass er vorher eingeführt worden wäre. Besonders anstrengend ist die 4. Szene, in der das beengte Bühnenbild der Villa mit Charakteren überfüllt ist, in der es völlig an Struktur fehlt, alle sitzen und stehen irgendwie auf- und umeinander, es bleibt unklar, wer mit wem warum (nicht) agiert – ein großes Chaos, schwer erträglich anzusehen. Problematisch ist zudem, dass viele zentrale Szenen, wie Wotans Auftritte in seinem Schlafzimmer oder die Befreiung Freias ganz links am Bühnenrand stattfinden und so für das links-sitzende Publikum nicht sichtbar sind.

Musikalisch ist die Aufführung leidlich gut. Cornelius Meister, relativ kurzfristig eingesprungen, wählt den sicheren Weg und arbeitet sich kapellmeisterlich durch die Partitur, mit nur einzelnen Höhepunkten, vor allem in den Zwischenspielen. Vielleicht wird die Musik auch von der Szene nach unten gezogen, aber wirklich packend wird es nicht. Gesungen wird auf hohem Niveau, allen voran die großartige Okka von der Damerau als Erda (sie müsste garnicht das Tablett zu Boden werfen, um das Publikum zu wecken, sie würde das auch stimmlich schaffen), Christa Mayer als intensive, vielschichtige Fricka und der sehr präsente und stimmmächtige Olafur Sigurdarson als Alberich. Daniel Kirch als Loge scheint zu baritonal und angestrengt, präsent sind auch Jens-Erik Aasbø und Wilhelm Schwinghammer als Fasolt und Fafner. Egils Silins gefällt als präsenter Wotan, heraus ragt Attilio Glaser als Froh.

Nur mäßig froh gestimmt sind wir nun also auf die heutige Walküre gespannt.

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Das Liebesverbot, Opera Incognita, Sugar Mountain, München, Premiere 16.10.2021

Eines der schönsten Werke aus dem Genre der Opera Buffa stammt, was so manchen überraschen mag, von – Richard Wagner: Das Liebesverbot. Leider wird die Oper nur selten gespielt – umso erfreulicher ist es, dass sich nun die freie Münchener Theatergruppe Opera Incognita ihrer annahm, um sie an dem ungewöhnlichen Veranstaltungsort Sugar Montain zu ehren. Wagners Jugendwerk ist eine moderne Opera Buffa mit nur wenigen Rezitativen, vielen Anklängen an Gioacchino Rossini und (den leider noch seltener gespielten) Daniel-François-Esprit Auber – und zugleich vorausweisend auf Wagner Spätwerk. Vieles kommt dem geneigten Hörer musikalisch bekannt vor, natürlich vor allem das Motiv des »Dresdner Amen« in der Kloster-Szene, das uns später im »Tannhäuser« und im »Parsifal« prominent wiederbegegnet. Dirigent Ernst Bartmann und sein Orchester arbeiten die Bezüge deutlich heraus, z.B. die Vorbereitung des „Liebesduetts“ aus Tristan und Isolde oder die an Tannhäuser und Lohengrin erinnernden Chor-Tableaus der Gerichtsszene. So zeigt sich an dieser Aufführung, dass die Oper den Vergleich mit anderen humorvollen Werken nicht zu scheuen braucht und öfter auf die Spielpläne gesetzt werden sollte.

Ernst Bartmann findet mit dem (etwas kleinen und akustisch nicht optimal positionierten) Orchester den richtigen Schwung für das Werk, mit Verständnis für die Ironie, den Witz und die „Tradition“, also Wagners allzu offensichtliche Vorbilder, die spritzig eingebunden werden. Die Sänger*innen tragen mit Spielfreude, Verve und hohen stimmlichen Niveau zum Gelingen der Aufführung bei. Dass man den jungen Sänger*innen teils anhört, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache ist, vergisst man schnell während der mitreißenden Aufführung. So begeistern vor allem Lyriel Benameur als Mariana mit ihrem glasklaren Sopran und sicheren Höhen und Ekatarina Isachenko als Spielmacherin Isabella mit Kraft und Stimmschönheit. Auch Karo Khachatryan (Luzio), Rodrigo Trosino (Claudio) und Robson Bueno Tavare (Friedrich) überzeugen mit Kraft und Spielfreude. Ebenso hervorzuheben sind Florian Dengler als exzellenter, fast schon zu souveräner Kauz, Brighella und Larissa Angelini als spritzige Dorella. Konstantin Riedl und Herfinnur Árnafjall als Antonio und Angelo runden das Ensemble ab. Auch der Chor trägt zum gelungenen Gesamtbild der Aufführung bei.

Szenisch ist die Aufführung ungemein dicht. Mit dem kleinen Ensemble nutzt Regisseur Andreas Wiedermann den ganzen Raum hervorragend, auch unter Einbeziehung des Zuschauerraums und der Bar, die wir Opernbesucher in der Pause nutzen und im zweiten Teil der verbotenerweise Karneval-feiernde Chor. Die Anleihen an das Heute der Pandemie sind humorvoll eingebunden (z.B. durch Slogans des Partyvolks wie „Fridays for Fasching“ oder „Frei-Heit/-Bier“) und thematisieren die derzeitige mangelnde politische Unterstützung für die Kultur ebenso wie den Egoismus vieler Maskenverweigerer. Vor allem überzeugt die Aufführung aber durch die genaue Personenführung. Exemplarisch sei die zentrale Szene zwischen Isabella und Statthalter Friedrich genannt, nicht nur in der eindringlichen Darstellung seines Versuchs, Isabella zu vergewaltigan, sondern auch in den Dialogen und bei Einbindung des Chors.

Die Aufführung von Opera Incognita, die Rahmen des internationalen Richard-Wagner-Kongresses stattfand, ist ein Highlight und ermöglicht den leichten Zugang zu dem Frühwerk. Die Veranstaltunghalle ist großartig und erinnert an das Kölner Staatenhaus, nur dass es in Letzterem wärmer ist. Die Chance, das Werk in einer der verbleidenden Aufführungen kennenzulernen, sollte sich der Fan der Opera Buffa ebenso wenig wie der echte Wagnerianer entgehen lassen.

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Die Walküre, Bayreuther Festspiele, 29.7.2021

Der Ring in Bayreuth ist das Größte – über eine Woche alle vier Opern am Stück, der gesamte Zyklus konzentriert, was gibt es Besseres! Corona-bedingt musste der neue Ring im letzten Jahr ausfallen, aus Planungsgründen konnte er dieses Jahr nicht einfach nachgeholt werden. Insofern gibt es ein spannendes neues Experiment in Bayreuth: die vier Opern werden in verschiedenen Kunstwerken an verschiedenen Orten aufgegriffen. Das reicht in den Komplexitätsstufen von einer Walküre-Aufführung bis zu einem (beeindruckenden) Wollkunstwerk im Festspielpark. Und die Walküre gerät, trotz gewisser Einschränkungen, zu einer wunderbaren Aufführung, die wehmütig stimmt und das Pandemie-Ende herbeisehnen lässt.

Herman Nitsch malt im Hintergrund Bilder, die Sänger musizieren im Vordergrund. Bei Nitsch darf man als Zuschauer nicht den Fehler begehen, eine Inszenierung zu erwarten oder das gesehene Werk als Inszenierung anzusehen – denn das ist es nicht, kann es nicht sein und soll es nicht sein. Die Aktion von Nitsch ist parallel zur Aufführung zu betrachten und kann ganz einfach heruntergebrochen werden: Nitsch malt Bilder. Wir erleben den Entstehungsprozess großflächiger Farbwüsten, es wirkt wie ein Blick in das Atelier des Künstlers, in dem er mit seinen Assistent:innen seine Bilder malt. Und dieser Blick auf das Entstehen der Bilder ist bewundernswert, er fesselt auch noch nach Stunden, man bekommt nicht genug von den spritzenden Farben, den fließenden Farben, den überraschenden Farben und den sich verändernden Farben. Die Bilder sind oft nach wenigen Minuten fertig. Dann werden sie übermalt und sind wieder fertig. Dann werden sie wieder übermalt und am Schluss, wenn sie fertig sind, scheinen sie nicht mehr fertig. Der Blick in das vermeintliche Atelier zeigt das Entstehen von Kunstwerken, ein Entstehen und Vergehen, ein Schaffen und Verwerfen, ein Verbessern, Erweitern, Rücknehmen. So wird die an sich statische Malkunst, bei der ein vermeintlich fertiges Bild an der Wand hängt, zu einem dauerhaften Prozess und als Zuschauer:in wird man Bilder nun immer mit anderen Augen betrachten.

Die beschriebene strikte Trennung zwischen Aktion und Musik ist klar und eigentlich von Anfang an deutlich. Bis Hunding auftritt und plötzlich großflächige blaue Farbe auftaucht. Bis Siegmund und Sieglinde sich, so wunderbar aus den „Winterstürmen“ entwickelt, erkennen und das Rot der Liebe (oder doch der Blutschande?) auftaucht. Bis in Wotans großem Dialog des 2. Aufzugs das Schwarz großflächig verteilt wird. Bis plötzlich eine gekreuzigte Frau hereingetragen wird. Bis die Fließbilder im 3. Aufzug von oben statt mit vollen Farbeimern höchst-filigran bearbeitet werden. Eine strikte Trennung von Aktion und Musik gibt es hier nicht. So kann man als Zuschauer je nach Wunsch in der Musik, in der Szene oder im Bild versinken und sich auf die Musik einlassen.

Pietari Inkinen dirigiert romantisch – etwas zu romantisch – und wird darin etwas zu langsam, ihm würde etwas mehr Schmiss gut tun. Im Walkürenritt möchte man ihm als Zuschauer in den Hintern treten, zuvor wollte Klaus Florian Vogt merklich selbiges tun. Und dennoch gelingt vieles ganz wunderbar, gerade die dialogischen Szenen im 2. Aufzug, die man selten so kurzweilig erlebt. Über dem Bayreuther Ring wird lange Zeit der Schatten Petrenkos schweben, der 2013 ein unglaubliches Dirigat schuf, es bis 2015 zur Meisterschaft weiterentwickelte und sich damit in eine Reihe mit Keilberth und Boulez stellte. Den Vergleich kann ein anderer Dirigent nur verlieren – also bleibt nur, den Stil radikal zu ändern. Das tat Marek Janowski mit seiner altbackenen Romantik, seiner schlampigen Tradition ab 2016 und das tut nun auch Inkinen mit seinem Versuch einer modernen Romantik, die er bis zum kommenden Jahr noch weiterentwickeln kann.

Gesungen wird weitgehend famos. Lise Davidsen ist eine sensationelle Sieglinde, die präsenter kaum sein könnte und für viele Jahre die neue Referenz werden kann. Freilich übersteuert sie noch gelegentlich und klingt teils etwas metallisch, aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich zum großen Ganzen. Mit Klaus Florian Vogt hat Davidsen einen ebenbürtigen Partner. Das mag im ersten Moment merkwürdig klingen, aber Vogts Stimme verfügt nicht nur über seine bekannte glockenreine Präsenz, sondern konnte sie zuletzt deutlich grundieren und an Tiefe gewinnen. Während seine frühen Siegmunde (ich erinnere mich an Karlsruhe oder München; auch andere Rollen mit tieferer Tessitura, wie der Max im Freischütz) noch nicht wirklich überzeugten, war das gestern überraschend großartig, intensiv und fest. Auch Christa Mayer ist eine exzellente, präsente und intensive Fricka.

Iréne Theorin als Brünnhilde teilt sich ihre vorhandenen Kräfte klug sein und vermeidet, wie noch als Isolde, zu große Vibrati, dennoch bleiben Zweifel, ob die vorhandenen Kräfte ausreichend für eine „volle“ Ring-Brünnhilde sind; man mag es schwer zu bewerten, da die Zurückhaltung im Gesamt so groß war. Ähnlich Tomasz Konieczny, kurzfristig als Wotan eingesprungen, der über weite Strecken sehr beeindruckt, sowohl die lauten Ausbrüche meistert als auch viele Konversationen ruhig, leise und klug anlegt. Die von ihm bekannten unangenehmen Vokalverfärbungen stören am Anfang, aber er bekommt sie in den Griff. Für den Abend eine große Leistung und ein beglückender Wotan, aber es bleiben Zweifel, ob er die Disposition für eine volle Ring-Saison aufweist. Sehr gut auch Dmitry Belosselskiy, der einen präsenten Hunding gibt. Insgesamt ist es sängerisch ein beglückender Abend, der, trotz zu langsamer Tempi, wohl auf Inkinen zurückgeht, der auf die jeweilige Disposition der Sänger einzugehen scheint. Die Werkstatt Bayreuth beglückt das ausgehungerte Publikum.

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Der fliegende Holländer, Bayreuther Festspiele 2021, Eröffnungspremiere

Endlich wieder Bayreuther Festspiele! Wie glücklich sind wir, nach einem Jahr Zwangspause wieder Aufführungen in Bayreuth erleben zu dürfen. Der befürchtete Aufwand mit der Registrierung stellt sich schnell als sehr unkompliziert heraus, mit dem Bändchen kommt man problemlos überall rein, durch die reduzierte Zuschauerzahl tritt man sich nicht auf die Füße und die verschiedenen Foodtrucks ermöglichen ein deutlich erfrischenderes Catering als mit der früheren Restauration. Am Platz im Haus dann ein kleiner Wehmutstropfen: vier Gäste aus Österreich, die den Eindruck vermitteln, um 5 Uhr morgens in der Hafenkneipe zu feiern, natürlich ohne die lästigen Masken (kein Teil der Inszenierung). Doch alles Drumherum ist schnell vergessen, wenn sich im Festspielhaus der Vorhang hebt und die ersten mystischen Töne aus dem Abgrund dringen.

Oksana Lyniv stellt gleich sicher, dass man das Drumherum vergisst und sich in die Oper einfindet. Sie hat das Werk sorgsam einstudiert und weiß genau, was sie will und zaubert eine Vielzahl von Klangfarben. Das ist toll und man findet verschiedene Beispiele in den letzten Jahren, als Bayreuth-Debütanten nicht so gut mit den klanglichen Verhältnissen zurechtkamen. Dennoch bleibt vor allem ungefähr die erste Hälfte des Werks recht steif und zerdehnt, sie scheint sich noch vor der Akustik zu fürchten und auf Nummer sicher zu gehen. Oft hat man den Eindruck, sie wolle Knappertsbusch noch überbieten (obwohl sie bei „Meine Musik“ auf BR-Klassik noch gegenteiligen versichert hatte). Deutlich hörbar scheint dies in Sentas großer Arie im 2. Aufzug, die vor allem in der 2. Strophe fast einschläft (man meint fast zu hören, wie die Musik in viertaktige Päckchen zerlegt und jeweils mit Ritardando und Fermatenpause verschnürt werden). Zusammen mit der biederen Inszenierung bleibt die Aufführung so über längere Strecken viel zu zahm – lebendig wird es eigentlich erst mit dem Auftritt Eriks. Also ein achtbares Debüt, das mit der Zeit sicherlich noch deutlich an Spannung gewinnen wird – mit Lyniv haben die Festspiele eine hervorragende Entscheidung getroffen.

Mit Tcherniakov haben die Festspiele einen gefeierten Regisseur gewonnen, ein „großer Name“, der an allen großen Häusern gefragt ist. Leider ist seine Inszenierung genauso schwach, wie andere Arbeiten an anderen Häuser (aber entsprechend des derzeitigen Trends). Tcherniakov ist sicherlich ein sehr guter Bühnenbildner, aber sollte sich vielleicht darauf beschränken, statt noch Regie zu führen (das war schon auffällig bei seinem Parsifal an der Staatsoper unter den Linden). Weil ihm zum Stück selbst wohl nichts einfällt, überlegt er sich eine neue Rahmenhandlung – ohne, dass das den Zuschauer:innen einen Mehrwert bringen würde. Die Inszenierung bleibt über weite Strecken stockbieder und kreuzbrav, im ersten Aufzug sitzen die Sänger an der Bar herum und singen, danach sitzen sie bei der Chorprobe, sitzen am Esstisch oder sitzen an Camping-Bestuhlung und singen. Personenführung oder Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt, dazu kommen handwerkliche Mängel. Zwei Beispiele dafür:

Im Senta-Holländer-Dialog im 2. Aufzug setzen sich die beiden zusammen mit Vater Daland und (angeblicher) Mutter Mary in einen Raum spießiger Familienidylle hinter Säulen und singen den Dialog bei einem Abendessen. Daraus ergeben sich Probleme noch und nöcher: zunächst sieht man hinter den Säulen nur noch wenig, und damit auch wenig Emotionen – was empfinden die Protagonisten hier, wie findet das Kennenlernen statt, wie entwickelt sich deren Verhältnis? Wir erfahren davon nichts, weil die beiden ja nur steif am Tisch sitzen. Dazu kommt, dass die angeblichen Eltern mit am Tisch sitzen, aber keinerlei dramaturgische Bedeutung haben und nicht erklärt wird, warum Daland zwar sagt „dann gehe ich jetzt mal“ und dann doch bleibt. Gegen Ende des Dialogs gehen die Eltern dann, wieder nicht dramaturgisch begründet, einfach hinaus. Aber warum geht Daland hinaus? – Weil er eine Minute später wieder reinkommen muss, er muss ja laut Text als nichtanwesender fragen, wie es jetzt mit der Hochzeit aussieht.

Eine wichtige Regel bei Wagner: man muss etwas Positives für alle handelnden Personen empfinden. Nichts war Wagner wichtiger als die Sympathie mit allen Protagonisten, das Mit-Leiden, das Verständnis für deren Handeln (ohne es gut finden zu müssen). Aber wie kann ich noch etwas für den Holländer empfinden, wenn er am Ende wahllos Dorfbewohner erschießt? Natürlich, es wird angeblich durch die in der Ouvertüre erfundene Handlung begründet, dass Daland die Mutter des Holländers in den Selbstmord treibt. Aber das soll reichen, um Verständnis mit dem Holländer zu haben? So erzeugt man doch nur Ablehnung, das Publikum freut sich über des Holländers Tod und dass Senta in ihrer Familienidylle daheimbleiben darf. Wie das aus dem Werk heraus hergeleitet werden soll, bleibt im Dunkel.

Man denke da nur an andere Aufführungen im Vergleich: Wie bleibt einem das Herz stehen, wenn bei Konwitschny in München Senta und Holländer einfach nur die Türen öffnen und sich sehen! Wie empfindet man einen Faustschlag bei Bieto in Stuttgart, wenn nach dem Liebesduett der betrunkene Daland mit Schampus-Flaschen und Prostituierten reinstürzt und seinen neuen Reichtum absichern will! Wie witzig ist es, wenn bei den Homoki-Meistersingern an der Komischen Oper Beckmesser mit seinem Frackschoß/Teufelsschwänzchen durch die Gassen huscht (das Bühnenbild scheint offensichtliche Inspiration für Tcherniakov)! Egal was man von den genannten Aufführungen hält: solche Emotionen werden hier verweigert, hier wird man lustloser Zuschauer und fragt sich, warum einen das Gezeigte interessieren soll.

Warum man als Zuschauer die Aufführung ansehen soll? Natürlich auch, weil wieder exzellent gesungen wird. Gewisse Abstriche akzeptiert man derzeit natürlich überall nach den langen, Corona bedingten Zwangspausen – erst recht bei Sängern wie Lundgren, die eine Corona-Infektion überstanden haben. Zunächst soll der, wie immer, wunderbare Chor hervorgehoben werden, der mit der Herausforderung zu kämpfen hat, aus Sicherheitsgründen aus dem Probensaal zu singen und live eingespielt zu werden. Aber das fällt live kaum auf, musikalisch wird das sehr hochwertig eingebunden und man hört sofort, dass so nur der Festspiel-Chor singt. Bravi!

Auch die Protagonisten überzeugen weitgehend. Für mich an erster Stelle: Eric Cutler als Erik, der die undankbare Rolle der für eine Frau wie Senta völlig uninteressanten Heulsuße so kraftvoll, stimmschön, perfekt und rund gestaltet, dass es einen die Tränen in die Augen treibt. Mit seinem Auftritt gewinnt die ganze Aufführung an Fahrt und wird zu einem runden Opernabend. Auch Asmik Grigorian überzeugt als kräftige und sichere Senta, selbst wenn sie zu Beginn noch zu kämpfen hat und ihre große Arie über die nächsten Aufführungen sicherlich noch gewinnt. Über mangelndes Textverständnis und teils verwaschene Phrasierungen sieht man angesichts der Stimmpräsenz und Bühnengewalt gerne hinweg. Eine so präsente Senta ist beglückend. John Lundgren als Holländer wird hoffentlich noch besser reinkommen, er hat die nötige körperliche Bühnenpräsenz, stimmlich hätte man sich mehr Farben oder Kraft gewünscht. Stimmschön und bühnenpräsent auch Attilio Glaser als Steuermann und Marina Prudenskaya als Mary. Bleibt Georg Zeppenfeld als großartiger Daland, wie immer mit absoluter Textverständlichkeit und stimmlicher Präsenz – ein absolut erstklassiger Daland.

Was verbleibt in der Gesamtschau? Musikalisch klar auf dem höchsten Bayreuth-Niveau, mit dem wir in den letzten Jahren wieder verwöhnt waren, viele der beschriebenen Kritikpunkte werden sich sicherlich schon im Laufe der nächsten Aufführungen einspielen. Szenisch wird eingelöst, was der Zeitgeist derzeit schätzt, man nimmt es – wie an allen anderen Häusern – in Kauf für eine musikalisch tolle Aufführung.

Da derzeit immer wieder aufgrund neuer Reisebeschränkungen Karten zurückgegeben werden müssen, sind immer wieder freie Karten verfügbar. Wie gesagt, die Registrierung geht unkompliziert, die Sitzplätze sind angemessen getrennt und dank Abstands und Maskenpflicht auch während der Aufführung fühlt man sich sehr sicher. Wer Glück hat und aufmerksam ist, kann spontan also noch Holländer-Karten ergattern – es lohnt sich!

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Die Geburt des Gesamtkunstwerks und deren Wirkung – Rezension zu Philippe Lacoue-Labarthe, Musica Ficta

Verschiedene Diskussionen um die Interpretation und Folgen des Werk Richard Wagners ranken sich unter Wagner-Gegnern ebenso wie unter den Wagnerianern, insbesondere: 1. Gilt „prima la musica, dopo la parole“ bei Wagner (also: zielt er nur auf den Effekt, auf Überwältigung und müssen Inszenierungen die Szenenanweisungen befolgen, um nicht von der Musik abzulenken?) 2. Sind Wagners Libretto-Texte literarisch minderwertig? 3. Förderte Wagner den deutschen Nationalismus, der in den 2. Weltkrieg führte und führt ein direkter Weg von Bayreuth nach Auschwitz?

Die Antworten darauf gibt Lacoue-Labarthe in seinen vier Szenen des „Musica Ficta“ auf Basis einer Analyse der Wagner-Rezeption Baudelaires, Mallarmés, Heideggers und Adornos. Die kurzen Antworten, die der Rezensent aus den Szenen herleiten kann, sind klar: 1. Nein, 2. Die Frage kann man so nicht stellen, 3. Ja. Aber im Einzelnen:

1. „Prima la Musica, dopo le parole”?

Die altbekannte Frage wird von Baudelaire in seinem ersten Brief an Wagner wohl recht eindeutig beantwortet – ein so wunderbarer Brief, obgleich uns heute die Gefahren seiner vorbehaltlosen Interpretation mit Fokus auf die Wirkung, bewusst sind: „die Wonne, zu verstehen, mich durchdringen, mich überwältigen zu lassen; eine wahrhaft sinnliche Wollust“; „die Harmonien schienen mir ganz allgemein jenen Rauschmitteln zu gleichen, die den Puls der Imagination beschleunigen“ (zit. nach S. 259 ff.). Wenn also die Musik so wichtig ist, dass die Dichtung nicht mehr auf einem vergleichbaren Niveau stehen kann, dass die Dichtung nicht mehr erreichen kann, was die Musik vermag, ist dann alles weitere, zum Theater gehörige, unnötig oder nebensächlich?

Eine solche gefühlsbetonte, vom Herzen oder vom Gefühl ausgehende Interpretation Wagners ist noch heute vielfach anzutreffen. Viele Opernbesucher sehen die Musik als das Entscheidende an, alles andere sei nur Beiwerk. Damit befindet man sich in zweifelhafter Gesellschaft: „Daß Richard Wagners Versuch scheitern mußte, […] ist die Auffassung und Schätzung derselben aus dem bloßen Gefühlszustand und die zunehmende Barbarisierung des Gefühlszustandes selbst zum bloßen Brodeln und Wallen des sich selbst überlassenen Gefühls“, so Heidegger in seinem Nietzsche-Essay 1936 (zit. n. S. 363), freilich unter Berufung auf Nietzsche („somnambulische[] Extase“, zit. n. S. 364).

Zwar ist Heideggers Verständnis vor dem Hintergrund der Nutzung Wagners Musik durch die Nationalsozialisten zu erklären, dennoch bleibt er auch weiter im Irrtum: wenn Heidegger Wagner vorwirft, „von der ausschließlichen Inbetrachtnahme des Gefühls geleitet“ zu werden und eine „auf Effekt und Eindruck berechnete Kunst“ zu schaffen (S. 365 f.), dann wirft er Wagner das vor, was Wagner Meyerbeer vorgeworfen hatte – und was in Bezug auf Wagner nicht weniger zutreffend sein könnte. Denn: ein solches Vorgehen bedarf keines Librettos, keines Textes, keines Theaters, keiner Figuren, keiner Bühnenbilder.

Was für Baudelaire und Wagner gilt („Deshalb ist sein Wagner, letztendlich, nicht Wagner, S. 288), muss ebenso für Nietzsche (während seines Bruchs mit Wagner) und Heidegger gelten und kann verallgemeinert werden: Wagner braucht auch Text, Figuren, Bühnenbilder, kurz: das Theater. Diese wichtige Erkenntnis wird bei Lacoue-Labarthe aber nur fast beiläufig angesprochen. Dennoch: wir müssen den Gedanken fortschreiben.

2. Wagners Libretto-Texte

Wenn also Baudelaire „wirklich zum erstenmal einer Kunst [begegnet], die den längst fraglosen Vorrang der Dichtung bedroht“, da Musik „unendlich über die Möglichkeiten des Schreibens hinaus[geht]“ (S. 262, 261), können sich daraus auch Aussagen über Wagners Libretto-Texte ziehen lassen? Natürlich. Sie verdeutlichen, dass die auch heute fast schon zum guten Ton gehörende Kritik an Wagners Texten fehlgeleitet ist. Vorwürfe, dass Wagners Texte nicht mit Goethe mithalten könnten oder wie peinlich der Stabreim sei, hört man oft.

Was die Kritiker der Wagner-Texte übersehen: die Texte sind Operntexte, müssen also keine Goethe‘sche Qualität aufweisen. Andererseits, wie Lacoue-Labarthe ausführlich begründet, vertrat Wagner, dass die Musik aufgrund einer „metaphysischen Notwendigkeit“ zur „mächtigsten Sprache geworden“ sei, was zu einer „Abwertung oder Auflösung [] der ursprünglichen Motivation des Zeichens“ führte (S. 272 f.). Daraus folgt, nach Wagner: einzige Überlebenschance der Dichtung ist „die innige Verschmelzung der Musik mit der Poesie“ (zit. n. S. 274). Für Wagner folgt daraus also, dass die Operntexte keine Goethe‘sche Qualität aufweisen dürfen, da „die fortan einzige mögliche Dichtung […] die dramatisch-musikalische [ist] – das alte ‚Opernlibretto‘“. Denn so kann die Idee sinnlich (im Sinne Hegels), nämlich als Mythos, existieren (S. 274).

Das Fazit Wagners, mit dem die oben aufgeworfene Frage beantwortet wird: „Die ‚Dichtung der Zukunft‘ ist der Mythos.“ Das treffende Fazit Lacoue-Labarthes: „Die romantische Forderung nach einer ‚neuen Mythologie‘“ durchläuft „das gesamte Jahrhundert“ und „ergreift natürlich auch Wagner, der aus ihr zuletzt seine gesamte Politik bezieht, die leider, wie man weiß, ziemlich eindeutig war“ (S. 255). Die Begründung des Nationalästhetizismus der Nationalsozialisten kann also, leider, direkt auf Wagner zurückgeführt werden, wie im – ebenfalls in dem Buch enthaltenen – Essay „Die Fiktion des Politischen“ allzu schmerzhaft dargestellt wird (insbes. S. 169 ff.). Das Heranziehen des Mythos für Wagners Musiktheater, das seinen Bezug vor allem aus der griechischen Geschichte zieht, ist also einer der wirkmächtigsten Einflüsse auf das 20. Jahrhundert.

3. Von Bayreuth nach Auschwitz?

Was ist der Mythos, den Wagner in seinen problematischen politischen Schrift stets so hervorhebt? In Kürze: das „ursprünglich namenlos entstandene Gedicht des Volkes“, das „einer Nation wie dem unwahrscheinlichen Deutschland, dessen Geburt stockt, es erlaubt, sich in sich selbst zu finden und wiederzuerkennen“ (S. 276).

Spätestens im Zuge der Revolution von 1848 wird die Frage der nationalen Identität bzw. die „Bildung eines [deutschen] Volk-Subjekts“ mit großer Wucht diskutiert, zumal diese Bildung „gegen die europäische ‚Zivilisation‘“ gerichtet ist (S. 276). Wagners Projekte (die Opern und deren Aufführung in Bayreuth) sind, zweifelsfrei, untrennbar mit den politischen Fragen der Bildung einer deutschen Nation bzw. der zu diesem Zeitpunkt erst erfolgenden Bestimmung des Deutschseins verbunden. Wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang davon spricht, „den Mythus der Zukunft zu schaffen“, kommentiert Lacoue-Labarthe trocken und zutreffend: „In ihm ist, bei aller Redlichkeit Nietzsches andererseits, im Hinblick auf die deutsche Politik, alles enthalten“ (S. 276). Das muss auch für Wagner so gesagt werden – wobei möglichweise der Begriff der „Redlichkeit“ zu streichen wäre.

Vor Wagner herrschte weitgehende Einigkeit in Europa, dass ein formaler Vorrang der italienischen, spanischen und französischen Künste durch deren Zugehörigkeit zum Bereich der romanischen Sprachen bestand (so vorrangig von Herder formuliert; S. 266). Während sich also die romanische Kunst spätestens aus der Renaissance begründete und europaweit unangefochten war, wurde die deutsche Nation als künstlerisch und kulturell „kolonisiert“ angesehen.

Wie geht Wagner mit dieser angeblichen Unterlegenheit der deutschen Kultur um? Aus Wagners Sicht beginnt die deutsche Kunst mit Goethe und Schiller, durch die sich sie Unterlegenheit zum Vorteil wendet, indem die deutsche Kunst „nicht durchs Filter der Romanität“ gesehen wird, sondern sich direkt mit der ursprünglich griechischen Kunst auseinandersetzt und so eine „übernationale“, ideale Kunstform schaffen soll (S. 267). Diese ideale und allgemeine Form kann, nach Wagner, natürlich, nur in der Musik hergestellt werden, in der alle Künste vereint werden (also, abgekürzt: „die dialektische Begegnung der partikularen Künste im ‚Gesamtkunstwerk‘“, S. 270).

Wenn man vor dem Hintergrund der Wirkung von Musik und der Berufung auf die griechische Kunst nun Wagners Kunstverständnis zusammenfassen will, muss man auf die „Vollendung“ der Geschichte der Musik in Beethoven zu sprechen kommen: Laut Wagner gelang Beethoven „die ‚Synthese‘ zwischen [1.] der ‚ursprünglichen rhythmischen Melodie‘, zum Tanz und [2.] der orchestrischen Musik der Griechen und [3.] der Harmonie der christlichen Musik (Palestrina, protestantischer Choral)“ (S. 271 f.). Die Beethovensche Symphonie sieht Wagner als der Vorbild dieser vollendeten Musik – und sich selbst als den direkten Nachfahren. Laut Wagner führt also er selbst Beethovens Kunst in seiner Oper fort.

Die unnachahmlich-komprimiert Zusammenstellung in Lacoue-Labarthes Werk kann anhand Wagners Meistersinger von Nürnberg subsumiert werden, denn der Zusammenhang zwischen Tanz, orchestrischer Musik der Griechen und der christlichen Musik wird gerade in den Meistersingern offenbar. Das Meistersinger-Motiv wird aus einem Bach-Choral entwickelt, der volkstümliche Tanz in der vermeintlich-schlichten kulturellen Folklore des Aufzugs der Zünfte im 3. Aufzug. Nicht zu vergessen: die vermeintliche Überlegenheit der deutschen Nation gegenüber dem „welschen Tand“. Es ist bekannt, wo das endete.

4. Fazit

Ist eine Zusammenfassung der Philosophien, künstlerischen Ideen und kulturellen Entwicklungen von Platon, Aristoteles, Homer, Palestrina, Herder, Kant, Schopenhauer, Luther, Hegel, Nietzsche, Mozart, Beethoven, Verlaine, Schelling, Baudelaire, Mallarmé, Heidegger bis zu Adorno in einem Essay möglich? Was absurd klingt und der Rezensent sich nie anmaßen wollte, vermag Lacoue-Labarth in einer beeindruckenden Art und Weise vor dem Hintergrund Richard Wagners, der ohne diese Beziehungen nicht zu verstehen, nur zu genießen ist.

Philippe Lacoue-Labarte, Dichtung als Erfahrung / Die Fiktion des Politischen / musica ficta (Figuren Wagners), aus dem Französischen von Thomas Schestag, Urs Engeler Editor Basel/Weil am Rhein, 2009.

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Spezial: Datenschutzberatung

Neben meiner Tätigkeit als Rechtsanwalt berate ich noch als Datenschutzbeauftragter (UDISzert). Als Mitgründer, Gesellschafter und Senior Consultant erbringen wir bei der BHO Consulting GmbH Leistungen als Datenschutzbeauftragte, Datenschutzmanager und -berater sowie zur IT-Sicherheit und EU-Vertreter nach Art. 27 DSGVO. Wir betreuen vor allem international tätige, datengetriebene KMU und und Konzerne, hin zu Forbes 500 und 2000-Unternehmen.

Mehr Informationen auf unserer Website https://www.bho-consulting.com/.

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