Der fliegende Holländer, Theater Mönchengladbach (5.11.2022)

Eine Pause im fliegenden Holländer nach dem 1. Akt (in der von Wagner nachkomponierten Fassung) lässt den Wagnerianer erstmal etwas missmutig vor der Aufführung auf das kommende blicken, selbst wenn der Übergang vom 2. zum 3. Akt dann in Wagners Originalfassung gespielt wird. Aber in Mönchengladbach wird schnell klar: die Pause braucht man, da Roman Hovenbitzers Inszenierung zu belastend ist, um alles geballt zu sehen. Hinzu kommt die runde und packende musikalische Umsetzung, famos geleitet durch den Kapellmeister Sebastian Engel. So wird man schon während der Ouvertüre in den Bann gezogen in einen Psychokrimi, der die Zuschauer:innen durchgehend gefangen nimmt.

So begeistert die Aufführung in Mönchengladbach mit einer packenden szenischen Umsetzung, die die Geschichte ebenso konsequent erzählt wie die Interpretation Sentas Seelenlebens. Das handwerkliche Geschick zeigt sich auch an der Arbeit mit Objekten wie der Puppe oder dem Leichentuch, die nicht nur in einem Moment gezeigt werden, sondern über das Stück hinweg auserzählt werden. Auch Dalands Liebschaft mit Mary wird nicht nur anfangs angedeutet, sondern durch das Stück hindurch erzählt (z. B. im 2. Aufzug, wenn Daland über des Holländers möglicher Liebschaft mit Senta spricht und dabei Mary schöne Augen macht). Zwar ist etwas zweifelhaft, ob der Holländer zum Ende wirklich so ein enger Teil der Gesellschaft werden kann und Erik wirkt in der Inszenierung etwas als Fremdkörper, aber das sind Kleinigkeiten, die im Gesamtbild keine Rolle spielen.

Den „Holländer“ als eine Geschichte von Kindesmissbrauch zu inszenieren, ist nicht neu (man erinnert sich z. B. an Claus Guth in Bayreuth oder, hier sehr deutlich, an die beeindruckende alte Inszenierung in Karlsruhe). Wenn es so packend und konsequent, wie von Roman Hovenbitzer inszeniert wird, dann wird deutlich, wie logisch eine solche Auslegung ist. Hier: Daland interessiert sich nicht für den Tod seiner Gattin, so hat er mehr Raum für seine Liebschaften, u. a. mit Mary – dazwischen steht nur noch seine Tochter, die endlich heiraten soll, so dass er nicht mehr von ihr belästigt wird. Sie soll endlich mit ihrer Puppe im Hochzeitskleid spielen, statt mit ihren Piratenkostümen. Dass Dalands Mannschaft, insbesondere der Steuermann, sich an seinem Kind vergeht, will Daland nicht merken. Die traumatisierte Frau träumt sich teils in ihre andere Welt, blickt teils vom Bühnenrand auf ihre Kindheit zurück.

Das Auftreten des Holländers wird dementsprechend zur vermeintlichen Rettung Sentas, das vom Holländer im 1. Aufzug genutzte weiße Leinentuch, das er für sich zu nutzen wünscht, wird für Senta im Duett des 1. Aufzugs zum ersehnten Brautschleier. Im dritten Akt fügt sich alles zusammen, Senta, der Holländer und seine Mannen werden in die Gemeinschaft aufgenommen (oder ist es umgekehrt: wird Dalands Gesellschaft insgesamt zum „Geisterchor“?). Daland kann die Hochzeit nicht erwarten und fährt Sentas alte Kinderpuppe im Kinderwagen rein, und – als der Geisterchor beginnt – brechen Sentas Traumata aus ihrer Kindheit wieder hervor. Der Holländer findet gefallen an der bürgerlichen Gesellschaft, er schaut nach anderen Damen aus dem Chor, vergnügt sich mit einer Stripperin, Senta rückt aus dem Bewusstsein. Als der Holländer nicht auf Sentas Versicherung, ihn zu kennen, eingeht, ist es für Senta genug. Die Gesellschaft wird von ihr verstoßen, die Gemeinschaft mit ihrem jungen Selbst ist ihr ausreichend, sie wird frei und kann in ihre eigene, selbstbestimme Zukunft reisen – physisch oder psychisch, wer weiß das schon…

Auf einem vergleichbar hohen Niveau bewegt sich der musikalische Teil, so dass Musik und Szene sich passend vereinen. Aus dem Graben des tollen Orchesters ertönt ein wunderbarer „Wagner-Sound“, packend und intensiv durch Sebastian Engel dirigiert. Auch der stimmgewaltige und spielfreudige Chor mit Extra-Chor tragen mit beeindruckender Präsenz zum Gelingen des Abends bei. Dass an dem Abend auch mal etwas schiefgeht, z. B. die Bandeinspielung des Geisterchors ausfällt, spielt in der Wucht des Abends keine Rolle.

Die Solisten überzeugen durchweg. An erster Stelle soll Oliver Zwarg als Luxus-Einspringer (für den erkrankten Johannes Schwärsky) genannt werden, der mit seiner weichen und melodischen Stimmführung den Holländer intensiv und berührend gestaltet. Ein sehr fragiler, fragender Holländer, so schön und harmonisch gesungen. Mit Ingegjerd Bagøien Moe hat Zwarg eine Partnerin zur Seite, die stimmgewaltig und mit großer Spielfreude die Senta intensiv gestaltet, eine klasse Senta! Auch Matthias Wippich beeindruckt als Daland mit seinem sonoren Bass, seiner stimmlichen wie persönlichen Präsenz und seiner intensiven Rollengestaltung. Abgerundet wird das Ensemble durch Eva Maria Günschmann als präsente Mary (was für ein „Halt, halt!“ im 2. Akt!), Ralph Ertel als melodischen und intensiv gestaltenden Erik sowie Woongyi Lee als stimmschöner, leicht-liedhafter Steuermann.

Es gibt noch verschiedene Aufführungen bis Anfang Januar. Unbedingt reingehen!

Weiterlesen