Die Walküre, Bayreuther Festspiele, 29.7.2021

Der Ring in Bayreuth ist das Größte – über eine Woche alle vier Opern am Stück, der gesamte Zyklus konzentriert, was gibt es Besseres! Corona-bedingt musste der neue Ring im letzten Jahr ausfallen, aus Planungsgründen konnte er dieses Jahr nicht einfach nachgeholt werden. Insofern gibt es ein spannendes neues Experiment in Bayreuth: die vier Opern werden in verschiedenen Kunstwerken an verschiedenen Orten aufgegriffen. Das reicht in den Komplexitätsstufen von einer Walküre-Aufführung bis zu einem (beeindruckenden) Wollkunstwerk im Festspielpark. Und die Walküre gerät, trotz gewisser Einschränkungen, zu einer wunderbaren Aufführung, die wehmütig stimmt und das Pandemie-Ende herbeisehnen lässt.

Herman Nitsch malt im Hintergrund Bilder, die Sänger musizieren im Vordergrund. Bei Nitsch darf man als Zuschauer nicht den Fehler begehen, eine Inszenierung zu erwarten oder das gesehene Werk als Inszenierung anzusehen – denn das ist es nicht, kann es nicht sein und soll es nicht sein. Die Aktion von Nitsch ist parallel zur Aufführung zu betrachten und kann ganz einfach heruntergebrochen werden: Nitsch malt Bilder. Wir erleben den Entstehungsprozess großflächiger Farbwüsten, es wirkt wie ein Blick in das Atelier des Künstlers, in dem er mit seinen Assistent:innen seine Bilder malt. Und dieser Blick auf das Entstehen der Bilder ist bewundernswert, er fesselt auch noch nach Stunden, man bekommt nicht genug von den spritzenden Farben, den fließenden Farben, den überraschenden Farben und den sich verändernden Farben. Die Bilder sind oft nach wenigen Minuten fertig. Dann werden sie übermalt und sind wieder fertig. Dann werden sie wieder übermalt und am Schluss, wenn sie fertig sind, scheinen sie nicht mehr fertig. Der Blick in das vermeintliche Atelier zeigt das Entstehen von Kunstwerken, ein Entstehen und Vergehen, ein Schaffen und Verwerfen, ein Verbessern, Erweitern, Rücknehmen. So wird die an sich statische Malkunst, bei der ein vermeintlich fertiges Bild an der Wand hängt, zu einem dauerhaften Prozess und als Zuschauer:in wird man Bilder nun immer mit anderen Augen betrachten.

Die beschriebene strikte Trennung zwischen Aktion und Musik ist klar und eigentlich von Anfang an deutlich. Bis Hunding auftritt und plötzlich großflächige blaue Farbe auftaucht. Bis Siegmund und Sieglinde sich, so wunderbar aus den „Winterstürmen“ entwickelt, erkennen und das Rot der Liebe (oder doch der Blutschande?) auftaucht. Bis in Wotans großem Dialog des 2. Aufzugs das Schwarz großflächig verteilt wird. Bis plötzlich eine gekreuzigte Frau hereingetragen wird. Bis die Fließbilder im 3. Aufzug von oben statt mit vollen Farbeimern höchst-filigran bearbeitet werden. Eine strikte Trennung von Aktion und Musik gibt es hier nicht. So kann man als Zuschauer je nach Wunsch in der Musik, in der Szene oder im Bild versinken und sich auf die Musik einlassen.

Pietari Inkinen dirigiert romantisch – etwas zu romantisch – und wird darin etwas zu langsam, ihm würde etwas mehr Schmiss gut tun. Im Walkürenritt möchte man ihm als Zuschauer in den Hintern treten, zuvor wollte Klaus Florian Vogt merklich selbiges tun. Und dennoch gelingt vieles ganz wunderbar, gerade die dialogischen Szenen im 2. Aufzug, die man selten so kurzweilig erlebt. Über dem Bayreuther Ring wird lange Zeit der Schatten Petrenkos schweben, der 2013 ein unglaubliches Dirigat schuf, es bis 2015 zur Meisterschaft weiterentwickelte und sich damit in eine Reihe mit Keilberth und Boulez stellte. Den Vergleich kann ein anderer Dirigent nur verlieren – also bleibt nur, den Stil radikal zu ändern. Das tat Marek Janowski mit seiner altbackenen Romantik, seiner schlampigen Tradition ab 2016 und das tut nun auch Inkinen mit seinem Versuch einer modernen Romantik, die er bis zum kommenden Jahr noch weiterentwickeln kann.

Gesungen wird weitgehend famos. Lise Davidsen ist eine sensationelle Sieglinde, die präsenter kaum sein könnte und für viele Jahre die neue Referenz werden kann. Freilich übersteuert sie noch gelegentlich und klingt teils etwas metallisch, aber das sind Kleinigkeiten im Vergleich zum großen Ganzen. Mit Klaus Florian Vogt hat Davidsen einen ebenbürtigen Partner. Das mag im ersten Moment merkwürdig klingen, aber Vogts Stimme verfügt nicht nur über seine bekannte glockenreine Präsenz, sondern konnte sie zuletzt deutlich grundieren und an Tiefe gewinnen. Während seine frühen Siegmunde (ich erinnere mich an Karlsruhe oder München; auch andere Rollen mit tieferer Tessitura, wie der Max im Freischütz) noch nicht wirklich überzeugten, war das gestern überraschend großartig, intensiv und fest. Auch Christa Mayer ist eine exzellente, präsente und intensive Fricka.

Iréne Theorin als Brünnhilde teilt sich ihre vorhandenen Kräfte klug sein und vermeidet, wie noch als Isolde, zu große Vibrati, dennoch bleiben Zweifel, ob die vorhandenen Kräfte ausreichend für eine „volle“ Ring-Brünnhilde sind; man mag es schwer zu bewerten, da die Zurückhaltung im Gesamt so groß war. Ähnlich Tomasz Konieczny, kurzfristig als Wotan eingesprungen, der über weite Strecken sehr beeindruckt, sowohl die lauten Ausbrüche meistert als auch viele Konversationen ruhig, leise und klug anlegt. Die von ihm bekannten unangenehmen Vokalverfärbungen stören am Anfang, aber er bekommt sie in den Griff. Für den Abend eine große Leistung und ein beglückender Wotan, aber es bleiben Zweifel, ob er die Disposition für eine volle Ring-Saison aufweist. Sehr gut auch Dmitry Belosselskiy, der einen präsenten Hunding gibt. Insgesamt ist es sängerisch ein beglückender Abend, der, trotz zu langsamer Tempi, wohl auf Inkinen zurückgeht, der auf die jeweilige Disposition der Sänger einzugehen scheint. Die Werkstatt Bayreuth beglückt das ausgehungerte Publikum.

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Der fliegende Holländer, Bayreuther Festspiele 2021, Eröffnungspremiere

Endlich wieder Bayreuther Festspiele! Wie glücklich sind wir, nach einem Jahr Zwangspause wieder Aufführungen in Bayreuth erleben zu dürfen. Der befürchtete Aufwand mit der Registrierung stellt sich schnell als sehr unkompliziert heraus, mit dem Bändchen kommt man problemlos überall rein, durch die reduzierte Zuschauerzahl tritt man sich nicht auf die Füße und die verschiedenen Foodtrucks ermöglichen ein deutlich erfrischenderes Catering als mit der früheren Restauration. Am Platz im Haus dann ein kleiner Wehmutstropfen: vier Gäste aus Österreich, die den Eindruck vermitteln, um 5 Uhr morgens in der Hafenkneipe zu feiern, natürlich ohne die lästigen Masken (kein Teil der Inszenierung). Doch alles Drumherum ist schnell vergessen, wenn sich im Festspielhaus der Vorhang hebt und die ersten mystischen Töne aus dem Abgrund dringen.

Oksana Lyniv stellt gleich sicher, dass man das Drumherum vergisst und sich in die Oper einfindet. Sie hat das Werk sorgsam einstudiert und weiß genau, was sie will und zaubert eine Vielzahl von Klangfarben. Das ist toll und man findet verschiedene Beispiele in den letzten Jahren, als Bayreuth-Debütanten nicht so gut mit den klanglichen Verhältnissen zurechtkamen. Dennoch bleibt vor allem ungefähr die erste Hälfte des Werks recht steif und zerdehnt, sie scheint sich noch vor der Akustik zu fürchten und auf Nummer sicher zu gehen. Oft hat man den Eindruck, sie wolle Knappertsbusch noch überbieten (obwohl sie bei „Meine Musik“ auf BR-Klassik noch gegenteiligen versichert hatte). Deutlich hörbar scheint dies in Sentas großer Arie im 2. Aufzug, die vor allem in der 2. Strophe fast einschläft (man meint fast zu hören, wie die Musik in viertaktige Päckchen zerlegt und jeweils mit Ritardando und Fermatenpause verschnürt werden). Zusammen mit der biederen Inszenierung bleibt die Aufführung so über längere Strecken viel zu zahm – lebendig wird es eigentlich erst mit dem Auftritt Eriks. Also ein achtbares Debüt, das mit der Zeit sicherlich noch deutlich an Spannung gewinnen wird – mit Lyniv haben die Festspiele eine hervorragende Entscheidung getroffen.

Mit Tcherniakov haben die Festspiele einen gefeierten Regisseur gewonnen, ein „großer Name“, der an allen großen Häusern gefragt ist. Leider ist seine Inszenierung genauso schwach, wie andere Arbeiten an anderen Häuser (aber entsprechend des derzeitigen Trends). Tcherniakov ist sicherlich ein sehr guter Bühnenbildner, aber sollte sich vielleicht darauf beschränken, statt noch Regie zu führen (das war schon auffällig bei seinem Parsifal an der Staatsoper unter den Linden). Weil ihm zum Stück selbst wohl nichts einfällt, überlegt er sich eine neue Rahmenhandlung – ohne, dass das den Zuschauer:innen einen Mehrwert bringen würde. Die Inszenierung bleibt über weite Strecken stockbieder und kreuzbrav, im ersten Aufzug sitzen die Sänger an der Bar herum und singen, danach sitzen sie bei der Chorprobe, sitzen am Esstisch oder sitzen an Camping-Bestuhlung und singen. Personenführung oder Interaktion zwischen den Protagonisten findet kaum statt, dazu kommen handwerkliche Mängel. Zwei Beispiele dafür:

Im Senta-Holländer-Dialog im 2. Aufzug setzen sich die beiden zusammen mit Vater Daland und (angeblicher) Mutter Mary in einen Raum spießiger Familienidylle hinter Säulen und singen den Dialog bei einem Abendessen. Daraus ergeben sich Probleme noch und nöcher: zunächst sieht man hinter den Säulen nur noch wenig, und damit auch wenig Emotionen – was empfinden die Protagonisten hier, wie findet das Kennenlernen statt, wie entwickelt sich deren Verhältnis? Wir erfahren davon nichts, weil die beiden ja nur steif am Tisch sitzen. Dazu kommt, dass die angeblichen Eltern mit am Tisch sitzen, aber keinerlei dramaturgische Bedeutung haben und nicht erklärt wird, warum Daland zwar sagt „dann gehe ich jetzt mal“ und dann doch bleibt. Gegen Ende des Dialogs gehen die Eltern dann, wieder nicht dramaturgisch begründet, einfach hinaus. Aber warum geht Daland hinaus? – Weil er eine Minute später wieder reinkommen muss, er muss ja laut Text als nichtanwesender fragen, wie es jetzt mit der Hochzeit aussieht.

Eine wichtige Regel bei Wagner: man muss etwas Positives für alle handelnden Personen empfinden. Nichts war Wagner wichtiger als die Sympathie mit allen Protagonisten, das Mit-Leiden, das Verständnis für deren Handeln (ohne es gut finden zu müssen). Aber wie kann ich noch etwas für den Holländer empfinden, wenn er am Ende wahllos Dorfbewohner erschießt? Natürlich, es wird angeblich durch die in der Ouvertüre erfundene Handlung begründet, dass Daland die Mutter des Holländers in den Selbstmord treibt. Aber das soll reichen, um Verständnis mit dem Holländer zu haben? So erzeugt man doch nur Ablehnung, das Publikum freut sich über des Holländers Tod und dass Senta in ihrer Familienidylle daheimbleiben darf. Wie das aus dem Werk heraus hergeleitet werden soll, bleibt im Dunkel.

Man denke da nur an andere Aufführungen im Vergleich: Wie bleibt einem das Herz stehen, wenn bei Konwitschny in München Senta und Holländer einfach nur die Türen öffnen und sich sehen! Wie empfindet man einen Faustschlag bei Bieto in Stuttgart, wenn nach dem Liebesduett der betrunkene Daland mit Schampus-Flaschen und Prostituierten reinstürzt und seinen neuen Reichtum absichern will! Wie witzig ist es, wenn bei den Homoki-Meistersingern an der Komischen Oper Beckmesser mit seinem Frackschoß/Teufelsschwänzchen durch die Gassen huscht (das Bühnenbild scheint offensichtliche Inspiration für Tcherniakov)! Egal was man von den genannten Aufführungen hält: solche Emotionen werden hier verweigert, hier wird man lustloser Zuschauer und fragt sich, warum einen das Gezeigte interessieren soll.

Warum man als Zuschauer die Aufführung ansehen soll? Natürlich auch, weil wieder exzellent gesungen wird. Gewisse Abstriche akzeptiert man derzeit natürlich überall nach den langen, Corona bedingten Zwangspausen – erst recht bei Sängern wie Lundgren, die eine Corona-Infektion überstanden haben. Zunächst soll der, wie immer, wunderbare Chor hervorgehoben werden, der mit der Herausforderung zu kämpfen hat, aus Sicherheitsgründen aus dem Probensaal zu singen und live eingespielt zu werden. Aber das fällt live kaum auf, musikalisch wird das sehr hochwertig eingebunden und man hört sofort, dass so nur der Festspiel-Chor singt. Bravi!

Auch die Protagonisten überzeugen weitgehend. Für mich an erster Stelle: Eric Cutler als Erik, der die undankbare Rolle der für eine Frau wie Senta völlig uninteressanten Heulsuße so kraftvoll, stimmschön, perfekt und rund gestaltet, dass es einen die Tränen in die Augen treibt. Mit seinem Auftritt gewinnt die ganze Aufführung an Fahrt und wird zu einem runden Opernabend. Auch Asmik Grigorian überzeugt als kräftige und sichere Senta, selbst wenn sie zu Beginn noch zu kämpfen hat und ihre große Arie über die nächsten Aufführungen sicherlich noch gewinnt. Über mangelndes Textverständnis und teils verwaschene Phrasierungen sieht man angesichts der Stimmpräsenz und Bühnengewalt gerne hinweg. Eine so präsente Senta ist beglückend. John Lundgren als Holländer wird hoffentlich noch besser reinkommen, er hat die nötige körperliche Bühnenpräsenz, stimmlich hätte man sich mehr Farben oder Kraft gewünscht. Stimmschön und bühnenpräsent auch Attilio Glaser als Steuermann und Marina Prudenskaya als Mary. Bleibt Georg Zeppenfeld als großartiger Daland, wie immer mit absoluter Textverständlichkeit und stimmlicher Präsenz – ein absolut erstklassiger Daland.

Was verbleibt in der Gesamtschau? Musikalisch klar auf dem höchsten Bayreuth-Niveau, mit dem wir in den letzten Jahren wieder verwöhnt waren, viele der beschriebenen Kritikpunkte werden sich sicherlich schon im Laufe der nächsten Aufführungen einspielen. Szenisch wird eingelöst, was der Zeitgeist derzeit schätzt, man nimmt es – wie an allen anderen Häusern – in Kauf für eine musikalisch tolle Aufführung.

Da derzeit immer wieder aufgrund neuer Reisebeschränkungen Karten zurückgegeben werden müssen, sind immer wieder freie Karten verfügbar. Wie gesagt, die Registrierung geht unkompliziert, die Sitzplätze sind angemessen getrennt und dank Abstands und Maskenpflicht auch während der Aufführung fühlt man sich sehr sicher. Wer Glück hat und aufmerksam ist, kann spontan also noch Holländer-Karten ergattern – es lohnt sich!

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