Opernkritik: Tristan und Isolde, Deutsche Oper Berlin, März 2013

Ich bin noch immer ganz überwältigt von den Tristan-Aufführungen an der DOB, besucht am März 2013, Donnerstag und Sonntag. Ein recht gutes Dirigat mit einigen berührenden Szenen, großartige Sänger und eine geniale Inszenierung machten das vor allem am Sonntag zu einer echten Sternstunde.

Vor all em die männlichen Sänger überzeugten rundheraus. Samuel Youn ist ein exzellenter Kurwenal, kraftvoll, freudig gestaltend und mitreißend schauspielernd, Stephen Gould ein sensationeller Tristan, der die Partie durchgehend aussingt und packend gestaltet, ohne Ermüdungserscheinigungen – überwältigend! Während er mir am Donnerstag noch nicht an den zuvor gehörten exzellenten R.D. Smith hinreichte, war er ihm am Sonntag absolut ebenbürdig (oder besser?). Ungemein gewann die Aufführung durch das Einspringen von Günther Groissböck statt Hans-Peter König als Marke. Während König wohl Donnerstag schon angeschlagen war, begeisterte Groissböck mit einem sensationellen Marke. Stimmlich mögen Pape und Youn derzeit besser sein (sonst wohl keiner), aber gestalterisch und darstellerisch war das tief berührend, ergreifend und atemberaubend. Aus jeder schauspielerischen Geste, jeder gesungenen Phrase machte Groissböck den Schmerz Markes nur zu deutlich. Kaum zu glauben, dass er die Rolle das erste Mal auf einer Opernbühne sang.

Etwas problematischer die Damen. Für Urmana ist die Isolde (noch?) eine Grenzpartie, die sie behutsam anpacken sollte. Sie hat ein großes Material, ein wunderbare harmonische Stimme und kann insbesondere in der Tiefe und Mittellage voll überzeugen. Während sie die höheren Regionen am Donnerstag noch größtenteils mit Bravour meisterte, sang sie am Sonntag deutlich unschärfer und schriller. Vergessen machte das jedoch Isoldes Verklärung, die spannend und mitreißend gesungen wurde, hier konnte sie ihre Vorzüge voll aussingen. Jane Irwin sang die Brangäne durchaus solide, aber so richtig überspringen wollte der Funke bei mir nicht. Mit Runnicles werde ich wohl nie warm, aber der Tristan war durchaus überzeugend und solide dirigiert, zwar mit einigen Patzern, andererseits auch einigen sehr berührenden Stellen, vor allem die jeweiligen Aktschlüsse (z.B. der im Orchester bedrückend deutlich gemachte Schmerzensschrei zum Schluss des 2. Akts oder auch die berührende und weiche Verklärung).

Einen großen Teil zur Sternstunde trug die geniale Inszenierung von Graham Vick bei. In einer David-Lynch-artigen Atmosphäre und opulentem Bühnenbild wird sehr beeindruckend aufgezeigt, dass Wagners Oper Psychoanalyse pur ist. Einfach anzuschauen ist es sicherlich nicht, da Handlungs- und Metaebene sich ständig überlagern bzw. eins werden, Symbole einen anderen Kontext erhalten und nicht-singende Personen in wechselnden Bedeutungen widerkehren. Zudem mag es teilweise etwas statisch wirken, was sich jedoch stets aus der Deutung ergibt. Die handelnden Personen werden immer wieder zu ihnen vertrauten Orten und Handlungsweisen gezogen – die Regression als maßgebliches Momentum.

Der Tod ist allgegenwärtig – für alle handelnden Personen, jederzeit. Daran lässt bereits der Sarg keinen Zweifel, der vom ersten Öffnen des Vorhangs bis zu dessen letzten Senken stets auf der Bühne präsent ist und der für alle Protagonisten eine maßgebliche Rolle spielt. So sehen wir zu Beginn den jungen Tristan, der am Sarg seines verstorbenen Vaters trauert – das Segelbot, das er sich vermutlich zur Selbsttherapie aus Papier basteltete, kann ihm ihn die Trauer nicht nehmen. Die nackte Frau tritt zum ersten Mal auf – Tristans Mutterimago, das ihn nach draußen lenkt (auf gleiche Weise, in der Tristan im 3. Aufzug bei Isoldes Ankunft verschwinden wird), während gleichzeitig der jetzige Tristan die Bühne betritt und sich an gleicher Stelle niederlässt. Der Sarg mit dem Leichnam Morolds, den Tristan zusammen mit Isolde zu Marke überführt. Die restliche Zeit bis zu seinem Auftritt sitzt Tristan dann vor dem Sarg. Bereits an dieser frühen Stelle der Inszenierung überlagern sich also die verschiedenen Ebenen. So früh wird deutlich: Tristans Heldentaten im Krieg, seine todesmutigen Handlungen, sein Kampf gegen Morold, Rückkehr zur Heilung durch Isolde, seine Bereitschaft zum Trinken des Todestranks und das ins-Schwert stürzen im 2. Aufzug usw.: alles Auswirkungen aus dem frühen Tod seiner Eltern, die er nicht verarbeiten kann. Diese Motive werden auf vielfältige Art durchgehend weitergesponnen.

Das zweite für die Handlung entscheidende Element ist der Tisch. Da sich hier Tristan und Isoldes Liebe durch Frau Minnes Trank entzündet und diese nach dem Genuss an diesem über sich herfallen, ist es natürlich konsequent, dass sie auch nach dem Erlöschen der Fackel im 2. Aufzug an diesem Tisch wieder über sich herfallen, dass Kurwenal hier im 3. Aufzug Tristan Wahnträume begleitet. Natürlich setzt sich auch Marke nach der Entdeckung der Liebenden an diesen Tisch. Eine Entscheidung größten Schmerzes für Isolde: Sie beschließt, ihren ehelichen Pflichten nachzukommen und bei Marke zu leben, Tristan zurückzulassen – und setzt sich also stocksteif zu Marke an den Tisch, ihr ist der Schock darüber anzumerken, nun Jahrzehnte an Markes Seite leben zu müssen. Begleitet wird der 2. Aufzug von einem nackten Paar, die neben Eros und Thanatos vermutlich auch Tristans Eltern genauso symbolisieren wie die jüngeren Tristan und Isolde. Der junge Tristan schaufelt sein eigenes Grab und schichtet einen Erdhaufen auf, Isolde bleibt passiv.

Der Jüngling kehrt auch im 3. Aufzug zurück, der nicht nur im Altersheim spielt, sondern auch im zuvor geschaufelten Grab, wie der wiederkehrende Erdhaufen symbolisiert (der bereits im 1. Aufzug auf dem Sarg lag), und zwar in Gestalt des Steuermannes: in Handtuch bei der Rasur sich vorbereitend auf das dauerhafte Vereint-sein mit Isolde. Die gealterten Personen, die kurz vor ihrem Tod nochmals die Handlung Revue passieren lassen, sind ein bewegendes Bild. Tristan konnte Isolde bis zum Schluss nicht vergessen, Kurwenal kann es nicht fassen, dass Tristan selbst im hohen Alter an nichts anderes denken kann, der alte Narr. Der Schluss ist nahe an Ponnell: Kurwenal will seine Ruhe und erzählt Tristan „Jaja, tatsächlich, sie kommt“. Kommt Isolde dann wirklich? Vielleicht spielt es auch in zwei getrennten Altersheimen und die beiden begegnen sich nicht mehr körperlich, nur noch im Welten-All. In Tristans Monologen verschenkt die Inszenierung am meisten: angesichts der großen Fensterwand wäre die Chance gewesen, die Symbolik besser zu erklären.

Auch der Schluss ist voll von Symbolik: Bei „der Freude Flagge am Wimpel“ legt eine alte Dame eine weiße (!) Rose auf nunmehr in erster Linie Tristans Sarg, danach seine Mutter (nun nicht mehr nackt, sondern angezogen und schwanger) einen Teddybären. Tristan entschwindet so in den Hintergrund, wie er im 1. Aufzug auftrat, und wie natürlich auch Isolde dann abtreten wird. Bei ihrer Verklärung sieht man dort einen Strom von Menschen vorbeilaufen, auch die Mutter ist dabei, in den sich Isolde einreiht. Spermien auf dem Weg in den Mutterleib? Die Rückkehr der Beiden in den Mutterleib, in des Welt-Atems wehenden All? Der Weg der Verstorbenen ins Jenseits? Jedenfalls auch das Schreiten auf die Bühne zum Schlussapplaus – vorne links stehend merkte man den Sängern an, wie diese noch immer in dem Werke schwebten. Dies vor allem bei Groissböck, der als Marke noch alleine auf der Bühne zurückbleiben musste (natürlich in dem Stuhl, in dem er bereits den 1. Aufzug miterlebt hatte), der noch völlig erschüttert und wie in Trance wirkte.

Leseempfehlung zur Psychoanalyse bei Wagner: Gabriele Hofmann, Das Tristan-Syndrom – Psychoanalytische und Existenzphilosophische Betrachtungen der Tristan-Figur Richard Wagners; Robert Donnington, Der Ring des Nibelungen und seine Symbole. Und natürlich direkte Quellen: Heidegger, Sein und Zeit sowie Freud, Die Traumdichtung

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