Opern-Kritik: Tannhäuser in Kassel

„Ein Puff! Also nein, das ist ja wie im Puff! Dazu muss ich doch nicht in die Oper gehen!“ Das schockierte Ehepaar neben mir irrte jedoch in gleich zweifacher Hinsicht: Zum einen bot die Tannhäuser-Aufführung des Staatstheaters Kassel eine musikalische und szenische Dichte, die dem Zuschauer andere Wonnen sicherstellte, als er sie in einem Puff (vielleicht) hätte bekommen können. Zum anderen würde es deutlich zu kurz greifen, die Szene nur als Puff zu sehen. Auch wenn dies für manchen Betrachter unerfreulich sein mag: Gezeigt werden wir, unsere Party- und gute-Laune-Gesellschaft mit allen seinen Vor- und Nachteilen, die die Freiheit vom nicht angezweifelten Glauben an Gott bietet.

Lorenzo Fioroni, der vor 2 Jahren bereits einen sensationellen Lohengrin auf die Beine stellte und zuvor von der Kritik hochgelobte „Holländer“ und „Meistersinger“, überzeugt nun erneut mit einer ausgefeilten Interpretation des Tannhäuser, die eine szenische Dichte aufweist, die auf deutschen Bühnen derzeit nur in wenigen Produktionen erreicht wird. Da sieht man auch gerne darüber hinweg, dass die musikalische Darbietung teilweise Wünsche offen lässt. Einzigartig dürfte zudem das Angebot der Dramaturgie sein: Dramaturg Jürgen Otten schloss seinen Einführungsvortrag (der tiefgehend in die Inszenierung einführt und auch mir noch Neues bot) mit der Aufforderung, ihn in den Pausen mit Fragen zur Aufführung zu löchern, er sei im Foyer anwesend. Ein Angebot, das zwar von wenigen Leuten genutzt wurde, von diesen jedoch umso leidenschaftlicher – das als Vorbild für andere Häuser dienen sollte.

Wer sich als Regisseur heutzutage dem Tannhäuser nähert, kann eine strikte Trennung von Venusberg und Wartburg-Gesellschaft szenisch nur schwer darstellen ohne sich lächerlich zu machen. In Kassel wird der offensichtliche Ansatz gewählt: Die beiden Gesellschaften sind Eins, sind wir. Tannhäuser ist durchgehend ein Teil dieser, der jedoch seine Liebe und Sexualität mit Venus deutlich freier und leidenschaftlicher ausleben kann, als der Rest, der es dabei belässt, Feste zu feiern, sich zu betrinken und attraktivere Sängerinnen (wie den jungen Hirten und Elisabeth) anzuhimmeln. Die Nähe zwischen d’Annunzios „Il Piacere“ und Tannhäuser ist unübersehbar. Das Bühnenbild besteht aus einer Drehbühne, in der Mitte die Weltachse, – die Fortdrehung in Gang gehalten durch Tannhäuser ebenso wie den Papst -, die vielfältig eingesetzt wird und intime Momente ebenso wie große Öffentlichkeit ermöglicht.

Tannhäuser und Venus flüchten aus der Party auf den Balkon, auf dem Tannhäuser seine Beziehung mit Venus beendet, anrührend dargestellt und hochmusikalisch umgesetzt. Gestört werden die beiden kurzzeitig durch Tannhäusers gealtertes Alter Ego (vermeintlich als betrunkener Partygast, der frische Luft sucht). Nachdem sich Tannhäuser lossagen konnte, bleibt Venus erschüttert auf dem Balkon zurück, um kurze Zeit später heimlich die Party zu verlassen. Er flüchtet zurück auf die Party, wo der junge Hirt in Gestalt einer Sängerin ein Ständchen singt. Die Partygesellschaft ist erfreut, dass Tannhäuser sich wieder Zeit für sie nimmt – die Party geht weiter, ungeachtet dessen, dass sich die Sängerin des jungen Hirten inzwischen erhängte. Elisabeth ist ebenfalls eine umjubelte Sängerin, nach ihrem bejubelten Einzug ein Ständchen singt. Wolfram, der in sie verliebt ist, nötigt Tannhäuser, ihr Elisabeth vorzustellen – wenn sie Tannhäuser fragt, was ihn zurückführte und er sich in das Nichtssagende „Ein Wunder war’s“ flüchtet, deutet er logischerweise auf Wolfram. Wolframs Plan geht nicht auf, Elisabeth hat nur Augen für Tannhäuser. Solche Gags, die unklare Lehrstellen des Werks überzeugend ausfüllen, finden sich immer wieder. Der Höhepunkt der Party ist natürlich der Sängerwettstreit, in dem sich die Teilnehmer doch erstaunlich keusch zeigen, ganz im Widerspruch zum allgemeinen Auftreten. Nach dem Eklat (dass Tannhäuser seine Sexualität vor der ganzen Gesellschaft auslebt) würde er von den Männern gelyncht – wenn nicht die Frauen dem Einhalt gebieten würden. Im 3. Aufzug ist die Party vorbei, ein paar Alkohol-Leichen liegen herum, der Papst legt gelangweilt Karten. Wolfram möchte sich vom Balkon in den Tod stürzen, immerhin er wird zurückgehalten. Zum Schluss übt man sich in Friede, Freude, Eierkuchen; die Party kann weitergehen, auch ohne Tannhäuser und Elisabeth.

Welchen Stellenwert hat die freie körperliche Liebe noch in unserer Gesellschaft, die vermutlich „oversexed and underfucked“ ist, wie weit darf man heutzutage gehen, wann sind die Grenzen überschritten? Sind wir wirklich glücklicher über die vermeintliche Offenheit, die doch noch oft eine deutliche Verklemmtheit ist? Und vor allem: Was gibt uns noch Halt? Gott ist tot, diese allzu einfache Methode des Haltfindens funktioniert nicht mehr. Nicht erst seit Nietzsche, sondern bereits seit Feuerbach. Die vermeintliche Freiheit des Menschen macht das Leben und das Zurechtfinden deutlich schwieriger. Die vermeintliche Vorherbestimmung des Lebens durch Gott wich dem Geworfensein. Die Inszenierung stellt viele Fragen, rüttelt auf, versucht auch Antworten zu geben. Dabei kommt kaum einer gut weg, weder unsere Gesellschaft, noch eine Institution wie der Papst, der zu einem Devolutionalienverkäufer heruntergekommen ist.

Die musikalische Darbietung ist nicht auf demselben höchsten Niveau, vor allem Paul McNamara hat merkliche Probleme mit der so schwierigen Hauptparty: Die Stimme ist angestrengt und gequetscht, im ersten Aufzug bricht sie ab und zu weg. Aber er steigert sich immer mehr, insbesondere die Rom-Erzählung kann dann überzeugen, zudem er eindringlich gestaltetet, schauspielert und die Gefühlswelt erlebbar macht. Kelly Cae Hogan ist eine beeindruckende Bühnenpersönlichkeit, die die Elisabeth mitreißend spielt und singt. Ulrike Schneider ist darstellerisch die perfekte Venus (leider einen Kopf größer als Tannhäuser), die auch sehr innig (wenn auch oft etwas hoch) singt.

Beeindruckend besetzt demgegenüber die kleinen Rollen: Insbesondere begeisterte Stefan Zenkl mit einem stets textverständlichen, runden, innig gestaltenden und fast perfekt singenden Wolfram – umso beeindruckender angesichts der von ihm abverlangten und bravourös gemeisterten schauspielerischen Leistung. Sehr beeindruckend auch der stimmschöne Hee Saup Yoon als eindrücklich gestaltender Landgraf Hermann und Johannes An bemerkenswert runder Walther von der Vogelweide. Das Orchester ist hörbar kleiner als  in München oder Berlin, insofern brauchte ich etwas Zeit, um mich darauf einzustellen, nach der Umgewöhnungsphase überzeugte mich Alexander Hannemann mit einem packenden, direkten und genauen Dirigat, dem das Orchester freudig folgte. Dies verband sich mit der packenden Inszenierung zu einem Erlebnis der Oper Tannhäuser, wie es nur selten möglich ist.

Keinesfalls verpassen – hinfahren!!!

Nachtrag, da mir noch ein Licht aufging: Dass die Gäste des Sängerfestes im 2. Aufzug verkleidet aus verschiedenen (Grimms) Märchen auftreten, sorgt nicht nur für viel zu sehen und Lokalbezug zu Kassel, sondern ist auch eine sehr gelungene Interpretation von Wolframs „so viel der Helden, tapfer, deutsch und weise“ und schlägt einen schönen Bogen zu den Meistersingern und Wagners Kunst-Begriff. (Und ist natürlich auch eine wohltuende Abwechslung von den mal wieder im Trend liegenden Hakenkreuzen.)

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