Die Geburt des Gesamtkunstwerks und deren Wirkung – Rezension zu Philippe Lacoue-Labarthe, Musica Ficta

Verschiedene Diskussionen um die Interpretation und Folgen des Werk Richard Wagners ranken sich unter Wagner-Gegnern ebenso wie unter den Wagnerianern, insbesondere: 1. Gilt „prima la musica, dopo la parole“ bei Wagner (also: zielt er nur auf den Effekt, auf Überwältigung und müssen Inszenierungen die Szenenanweisungen befolgen, um nicht von der Musik abzulenken?) 2. Sind Wagners Libretto-Texte literarisch minderwertig? 3. Förderte Wagner den deutschen Nationalismus, der in den 2. Weltkrieg führte und führt ein direkter Weg von Bayreuth nach Auschwitz?

Die Antworten darauf gibt Lacoue-Labarthe in seinen vier Szenen des „Musica Ficta“ auf Basis einer Analyse der Wagner-Rezeption Baudelaires, Mallarmés, Heideggers und Adornos. Die kurzen Antworten, die der Rezensent aus den Szenen herleiten kann, sind klar: 1. Nein, 2. Die Frage kann man so nicht stellen, 3. Ja. Aber im Einzelnen:

1. „Prima la Musica, dopo le parole”?

Die altbekannte Frage wird von Baudelaire in seinem ersten Brief an Wagner wohl recht eindeutig beantwortet – ein so wunderbarer Brief, obgleich uns heute die Gefahren seiner vorbehaltlosen Interpretation mit Fokus auf die Wirkung, bewusst sind: „die Wonne, zu verstehen, mich durchdringen, mich überwältigen zu lassen; eine wahrhaft sinnliche Wollust“; „die Harmonien schienen mir ganz allgemein jenen Rauschmitteln zu gleichen, die den Puls der Imagination beschleunigen“ (zit. nach S. 259 ff.). Wenn also die Musik so wichtig ist, dass die Dichtung nicht mehr auf einem vergleichbaren Niveau stehen kann, dass die Dichtung nicht mehr erreichen kann, was die Musik vermag, ist dann alles weitere, zum Theater gehörige, unnötig oder nebensächlich?

Eine solche gefühlsbetonte, vom Herzen oder vom Gefühl ausgehende Interpretation Wagners ist noch heute vielfach anzutreffen. Viele Opernbesucher sehen die Musik als das Entscheidende an, alles andere sei nur Beiwerk. Damit befindet man sich in zweifelhafter Gesellschaft: „Daß Richard Wagners Versuch scheitern mußte, […] ist die Auffassung und Schätzung derselben aus dem bloßen Gefühlszustand und die zunehmende Barbarisierung des Gefühlszustandes selbst zum bloßen Brodeln und Wallen des sich selbst überlassenen Gefühls“, so Heidegger in seinem Nietzsche-Essay 1936 (zit. n. S. 363), freilich unter Berufung auf Nietzsche („somnambulische[] Extase“, zit. n. S. 364).

Zwar ist Heideggers Verständnis vor dem Hintergrund der Nutzung Wagners Musik durch die Nationalsozialisten zu erklären, dennoch bleibt er auch weiter im Irrtum: wenn Heidegger Wagner vorwirft, „von der ausschließlichen Inbetrachtnahme des Gefühls geleitet“ zu werden und eine „auf Effekt und Eindruck berechnete Kunst“ zu schaffen (S. 365 f.), dann wirft er Wagner das vor, was Wagner Meyerbeer vorgeworfen hatte – und was in Bezug auf Wagner nicht weniger zutreffend sein könnte. Denn: ein solches Vorgehen bedarf keines Librettos, keines Textes, keines Theaters, keiner Figuren, keiner Bühnenbilder.

Was für Baudelaire und Wagner gilt („Deshalb ist sein Wagner, letztendlich, nicht Wagner, S. 288), muss ebenso für Nietzsche (während seines Bruchs mit Wagner) und Heidegger gelten und kann verallgemeinert werden: Wagner braucht auch Text, Figuren, Bühnenbilder, kurz: das Theater. Diese wichtige Erkenntnis wird bei Lacoue-Labarthe aber nur fast beiläufig angesprochen. Dennoch: wir müssen den Gedanken fortschreiben.

2. Wagners Libretto-Texte

Wenn also Baudelaire „wirklich zum erstenmal einer Kunst [begegnet], die den längst fraglosen Vorrang der Dichtung bedroht“, da Musik „unendlich über die Möglichkeiten des Schreibens hinaus[geht]“ (S. 262, 261), können sich daraus auch Aussagen über Wagners Libretto-Texte ziehen lassen? Natürlich. Sie verdeutlichen, dass die auch heute fast schon zum guten Ton gehörende Kritik an Wagners Texten fehlgeleitet ist. Vorwürfe, dass Wagners Texte nicht mit Goethe mithalten könnten oder wie peinlich der Stabreim sei, hört man oft.

Was die Kritiker der Wagner-Texte übersehen: die Texte sind Operntexte, müssen also keine Goethe‘sche Qualität aufweisen. Andererseits, wie Lacoue-Labarthe ausführlich begründet, vertrat Wagner, dass die Musik aufgrund einer „metaphysischen Notwendigkeit“ zur „mächtigsten Sprache geworden“ sei, was zu einer „Abwertung oder Auflösung [] der ursprünglichen Motivation des Zeichens“ führte (S. 272 f.). Daraus folgt, nach Wagner: einzige Überlebenschance der Dichtung ist „die innige Verschmelzung der Musik mit der Poesie“ (zit. n. S. 274). Für Wagner folgt daraus also, dass die Operntexte keine Goethe‘sche Qualität aufweisen dürfen, da „die fortan einzige mögliche Dichtung […] die dramatisch-musikalische [ist] – das alte ‚Opernlibretto‘“. Denn so kann die Idee sinnlich (im Sinne Hegels), nämlich als Mythos, existieren (S. 274).

Das Fazit Wagners, mit dem die oben aufgeworfene Frage beantwortet wird: „Die ‚Dichtung der Zukunft‘ ist der Mythos.“ Das treffende Fazit Lacoue-Labarthes: „Die romantische Forderung nach einer ‚neuen Mythologie‘“ durchläuft „das gesamte Jahrhundert“ und „ergreift natürlich auch Wagner, der aus ihr zuletzt seine gesamte Politik bezieht, die leider, wie man weiß, ziemlich eindeutig war“ (S. 255). Die Begründung des Nationalästhetizismus der Nationalsozialisten kann also, leider, direkt auf Wagner zurückgeführt werden, wie im – ebenfalls in dem Buch enthaltenen – Essay „Die Fiktion des Politischen“ allzu schmerzhaft dargestellt wird (insbes. S. 169 ff.). Das Heranziehen des Mythos für Wagners Musiktheater, das seinen Bezug vor allem aus der griechischen Geschichte zieht, ist also einer der wirkmächtigsten Einflüsse auf das 20. Jahrhundert.

3. Von Bayreuth nach Auschwitz?

Was ist der Mythos, den Wagner in seinen problematischen politischen Schrift stets so hervorhebt? In Kürze: das „ursprünglich namenlos entstandene Gedicht des Volkes“, das „einer Nation wie dem unwahrscheinlichen Deutschland, dessen Geburt stockt, es erlaubt, sich in sich selbst zu finden und wiederzuerkennen“ (S. 276).

Spätestens im Zuge der Revolution von 1848 wird die Frage der nationalen Identität bzw. die „Bildung eines [deutschen] Volk-Subjekts“ mit großer Wucht diskutiert, zumal diese Bildung „gegen die europäische ‚Zivilisation‘“ gerichtet ist (S. 276). Wagners Projekte (die Opern und deren Aufführung in Bayreuth) sind, zweifelsfrei, untrennbar mit den politischen Fragen der Bildung einer deutschen Nation bzw. der zu diesem Zeitpunkt erst erfolgenden Bestimmung des Deutschseins verbunden. Wenn Nietzsche in diesem Zusammenhang davon spricht, „den Mythus der Zukunft zu schaffen“, kommentiert Lacoue-Labarthe trocken und zutreffend: „In ihm ist, bei aller Redlichkeit Nietzsches andererseits, im Hinblick auf die deutsche Politik, alles enthalten“ (S. 276). Das muss auch für Wagner so gesagt werden – wobei möglichweise der Begriff der „Redlichkeit“ zu streichen wäre.

Vor Wagner herrschte weitgehende Einigkeit in Europa, dass ein formaler Vorrang der italienischen, spanischen und französischen Künste durch deren Zugehörigkeit zum Bereich der romanischen Sprachen bestand (so vorrangig von Herder formuliert; S. 266). Während sich also die romanische Kunst spätestens aus der Renaissance begründete und europaweit unangefochten war, wurde die deutsche Nation als künstlerisch und kulturell „kolonisiert“ angesehen.

Wie geht Wagner mit dieser angeblichen Unterlegenheit der deutschen Kultur um? Aus Wagners Sicht beginnt die deutsche Kunst mit Goethe und Schiller, durch die sich sie Unterlegenheit zum Vorteil wendet, indem die deutsche Kunst „nicht durchs Filter der Romanität“ gesehen wird, sondern sich direkt mit der ursprünglich griechischen Kunst auseinandersetzt und so eine „übernationale“, ideale Kunstform schaffen soll (S. 267). Diese ideale und allgemeine Form kann, nach Wagner, natürlich, nur in der Musik hergestellt werden, in der alle Künste vereint werden (also, abgekürzt: „die dialektische Begegnung der partikularen Künste im ‚Gesamtkunstwerk‘“, S. 270).

Wenn man vor dem Hintergrund der Wirkung von Musik und der Berufung auf die griechische Kunst nun Wagners Kunstverständnis zusammenfassen will, muss man auf die „Vollendung“ der Geschichte der Musik in Beethoven zu sprechen kommen: Laut Wagner gelang Beethoven „die ‚Synthese‘ zwischen [1.] der ‚ursprünglichen rhythmischen Melodie‘, zum Tanz und [2.] der orchestrischen Musik der Griechen und [3.] der Harmonie der christlichen Musik (Palestrina, protestantischer Choral)“ (S. 271 f.). Die Beethovensche Symphonie sieht Wagner als der Vorbild dieser vollendeten Musik – und sich selbst als den direkten Nachfahren. Laut Wagner führt also er selbst Beethovens Kunst in seiner Oper fort.

Die unnachahmlich-komprimiert Zusammenstellung in Lacoue-Labarthes Werk kann anhand Wagners Meistersinger von Nürnberg subsumiert werden, denn der Zusammenhang zwischen Tanz, orchestrischer Musik der Griechen und der christlichen Musik wird gerade in den Meistersingern offenbar. Das Meistersinger-Motiv wird aus einem Bach-Choral entwickelt, der volkstümliche Tanz in der vermeintlich-schlichten kulturellen Folklore des Aufzugs der Zünfte im 3. Aufzug. Nicht zu vergessen: die vermeintliche Überlegenheit der deutschen Nation gegenüber dem „welschen Tand“. Es ist bekannt, wo das endete.

4. Fazit

Ist eine Zusammenfassung der Philosophien, künstlerischen Ideen und kulturellen Entwicklungen von Platon, Aristoteles, Homer, Palestrina, Herder, Kant, Schopenhauer, Luther, Hegel, Nietzsche, Mozart, Beethoven, Verlaine, Schelling, Baudelaire, Mallarmé, Heidegger bis zu Adorno in einem Essay möglich? Was absurd klingt und der Rezensent sich nie anmaßen wollte, vermag Lacoue-Labarth in einer beeindruckenden Art und Weise vor dem Hintergrund Richard Wagners, der ohne diese Beziehungen nicht zu verstehen, nur zu genießen ist.

Philippe Lacoue-Labarte, Dichtung als Erfahrung / Die Fiktion des Politischen / musica ficta (Figuren Wagners), aus dem Französischen von Thomas Schestag, Urs Engeler Editor Basel/Weil am Rhein, 2009.

Weiterlesen

Opernkritik: Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Youporn (Oper Köln, Premiere)

Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Youporn

zugleich: eine Lanze für das Staatenhaus (und Tannhäuser)

Zu Beginn der Aufführung im Staatenhaus der Oper Köln könnte man meinen, das Stück hätte mit „Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Youporn“ einen angemessenen Namen. Aber so einfach macht es sich Patrick Kinmonth zum Glück nicht in seiner Inszenierung des Tannhäusers. Stattdessen erlebt man eine Maßstäbe-setzende Opernaufführung, die tief bedrückend, beglückend, bedrängend, befragend ist. Das ist das Verdienst einer grandiosen Ensembleleistung, die von Francois-Xavier Roth kongenial verbunden wird. Einen maßgeblichen Anteil tragen die szenischen Verhältnisse des Staatenhauses bei, die von der Regie genutzt werden und zu einer packenden Personenführung und pychologischen Ausleuchtung führen.

Das Staatenhaus wird vielfach angefeindet oder belächelt für die angeblich schlechte Akustik, die angeblich scheußlichen Räume oder das zweifelsfrei improvisiert-Wirkende. Die Tannhäuser-Aufführung zeigt, dass die Kritik nicht berechtigt ist – zumindest, wenn Regisseur und Dirigent die schwierigen Verhältnisse so gut nutzen. Dank des Orchesters „in“ der Bühne liegt der Fokus auf den Sängern. Das Staatenhaus verzeiht ihnen nichts, man hört einfach alles – jeden gelungenen Ton und jeden kleinsten Fehler. Die Akustik betont die Sänger – die schlichte Bühnentechnik betont die Personenführung und die Interaktion. Wer für die Szene verantwortlich ist, kann im Staatenhaus nicht die Sänger einfach an die Rampe stellen und dies über opulente Kostüme und Bühnenspektakel zu „verstecken“ suchen. Solche (leider oft anzutreffende) Scharlatanerie fliegt hier gnadenlos auf, das Hohle würde aufgrund der direkten Nähe von Bühne und Publikum sofort offenbar. Das ist heftig für Regisseure und die Sänger – doch beglückend für das Publikum, wenn so gut musiziert und gespielt wird wie in diesem grandiosen Tannhäuser.

Die Tannhäuser-Serie zeigt exemplarisch, wie Musik und Szene sich bedingen, ineinander übergehen. Die Klammer bildet GMD Roth, der ebenso detailgenau und sorgfältig wie musikalisch-emotional und ergreifend das exzellent aufspielende Gürzenich-Orchester dirigiert und den Kontakt mit den Sängern genauestens kontrolliert. So erzeugt Roth eine Spannung, ein Glitzern, ein Funkeln, das nicht beschrieben, nur erfahren werden kann. Schon jetzt ist Roth ein heißer Anwärter auf das „Dirigat des Jahres“.

Die Aufführung beginnt mit einem „hier und jetzt“: die Wartburg-Gesellschaft zuerst in alltäglicher Kleidung, aber schnell vor dem Laptop ausgezogen (vermutlich bei YouPorn?), die Frauen sitzen lustvoll, doch unbefriedigt als unbeachtete Objekte daneben. Das wirkt zeitgemäß, aber nicht platt, da Kinmonth die Szene schnell ändert und zwei Menschen zeigt, am Ende einer Beziehung, auseinandergelebt, uneins über die künftigen Wege. Das ist – auch dank der intensiven Darstellung durch David Pomeroy und Dalia Schaechter – anrührend, intensiv, schockierend, tragisch. Das Bühnenbild ist schlicht, doch über die breite Lichtinstallation mit den bewegbaren Säulen (unter Einbeziehung der Säulen des Staatenhauses) können viele unterschiedliche Stimmungen geschaffen werden. Innerhalb dieses schlichten Bildes erlebt man (weitgehend) eine intensive Personenführung, zumindest in den ersten beiden Aufzügen. Im dritten Aufzug wird die Personenregie zu weit zurückgefahren, hier hätte man sich mehr Handlung bzw. Interpretation gewünscht – gerade weil der Schluss, bei dem Elisabeth auf einem Scheiterhaufen landet, jedoch im Hintergrund mit Tannhäuser im Tode vereint wird, einerseits zu kitschig, andererseits zu platt wird. Die psychologische Deutung wird fortgeführt, die Grenzen zwischen Venusberg und Wartburg sind freilich fließend, auch dank einem groben Dutzend Damen in orangenen Perücken, die zwischen den „Welten“ zu fließen scheinen. In der Oper zeigte Wagner auch die Zerrissenheit des Mannes zwischen den verführenden Helena- und heiligen Maria-Gestalten. Insofern ist es logisch, wenn zu Beginn in Köln Venus und eine Marien-Gestalt auf der Bühne stehen – doch es findet sich noch eine dritte Dame, die sich schwerer einordnen lässt. Die vermeintlich offensichtliche Annahme, bei der Marien-Gestalt handele es sich um Elisabeth, wird erst später aufgelöst – denn Elisabeth scheint zwischen den beiden Extremen zu stehen und nicht so platt zuzuordnen. Das verdeutlichen auch die Kostüme der Damen, die den gleichen Schnitt aufweisen, aber durch andere Farben völlig unterschiedliche Eindrücke erwecken (aber warum trägt Venus Trauerkleidung statt ein verführerisches rot?). Diese psychologische Ausgestaltung führt Kinmonth durchgehend fort, doch nie mit dem Holzhammer und stets eigener Interpretation Raum lassend und mit einfühlsamer (zeitweise zu weniger) Personenführung.

Am meisten beeindrucken seitens der Damen Kristiane Kaiser als Elisabeth, die mit ihrem klaren Sopran, viel Gestaltung und Ausdruck begeistert, sowie María Isabel Segarra als junger Hirt, die die anspruchsvolle Partie makellos und glockenhell präsentiert (leider von der Regie im Hintergrund stehen gelassen). Bei den Herren begeistert Karl-Heinz Lehner mit seinem sonoren, klaren Bass (der allerdings bei der Premiere keinen perfekten Tag, sondern manche Kiekser hatte – ganz im Gegensatz zur besuchten späteren Vorstellung) und tiefgreifender Gestaltung sowie Miljenko Turk als stimmschöner, melodischer und tragischer Wolfram von Eschenbach. Doch auch David Pomeroy als Tannhäuser kann zusehends begeistern. Sicherlich ist noch einige Steigerung drin, da die Töne oft noch gepresst werden, doch für ein Rollendebüt ist die Leistung bereits ebenso beachtlich wie die Steigerung von der Premiere zur späteren Vorstellung. Mit etwas Übung kann er einer der ganz großen Interpreten des Tannhäusers werden. Dalia Schaechter als Venus begeistert mit ihrer Bühnenpräsenz und psychologischen Ausgestaltung der Partie, singt sehr anrühend und intensiv – angesichts dessen nimmt man leichte Einschränkungen bei manchen Ausbrüchen im 1. Aufzug gerne in Kauf. Ebenso überzeugen alle kleinen Rollen, die vier Edelknaben ebenso wie Dino Lüthy, Lucas Singer, John Heuzenroeder und Yorck Felix Speer als Tannhäusers frühere Gefährten.

Sensationell ist zudem der Chor! Dank der Bühnengestaltung stets unmittelbar zu hören – klangrein, intensiv, kräftig – nahe an der Perfektion. Einen solch überwältigenden Chor habe ich schon lange nicht mehr gehört. Die breite Bühne und die Akustik des Staatenhauses kommt dem Chor ebenso entgegen, wie die vielschichtige Aufstellung des Chores hinter, neben und vor Bühne und Publikumsraum. Ständig wird man überrascht von den Klängen, die aus mystischen Teilen des Raumes zu einem drängen. Erst Recht beim Schlusschor, der teilweise hinter dem Publikum positioniert ist – ein überwältigendes Erlebnis, wenn man das Glück hat, weit hinten zu sitzen.

Das sind nur wenige Beispiele, wie die schwierigen Verhältnisse des Staatenhauses genutzt werden, um ein singuläres und bewegendes Opernereignis zu schaffen. Diese Brecht’schen Verhältnisse, in denen das Publikum nicht von einer bunten Szene überwältigt wird, sondern stets verdeutlicht wird, dass wir uns in einer Opernauffindung befinden, könnte kein Regisseur absichtlich herstellen. Die Solisten gehen direkt vor dem Publikum auf- und ab. Wenn es zum nächsten Aufzug bläst, gehen Orchester, Chor und Solisten mit dem Publikum auf die Bühne (man kann noch gratulieren oder viel Erfolg wünschen), nach Aktschluss geht man zusammen wieder ab. Dieses Unmittelbare, Direkte ermöglicht eine besondere Atmosphäre, die man von Opernhäusern, in denen in der Regel eine strikte Trennung zwischen Mitwirkenden und Zuschauern herrscht, hier wunderbar aufgebrochen wird. Doch Kinmonth schafft es in seiner Inszenierung immer wieder, das Theater vergessen zu machen. Vielmehr tauchen die Sänger plötzlich an völlig unerwarteten Stellen wieder auf, es gibt tolle Effekte (wohin verwindet die Axt so plötzlich?!?) – so sehr man sich konzentriert, ständig wird der Zuschauer überrascht. Das wird verbunden mit der psychologischen Ausleuchtung der Personen, tollen Sängern und Chor sowie einem grandiosen Dirigat. Eine Sternstunde, wie man sie als Wagnerianer nur selten erlebt!

Weiterlesen

Theater ist eine produzierende Kunst

Zum Irrweg der Wiederbelebung alter Inszenierungen

Im letzten Sommer musste das Opernpublikum im deutschsprachigen Raum mehrere „Wiederbelebungen“ oder „Neuinterpretationen“ von Operninszenierungen erleben. Angeblich sollen damit „Re-Kreationen“ geschaffen werden, die Aufführungen von früher wieder „erlebbar“ machen. Dies ist ein Irrtum. Denn Theater ist eine Kunst des Augenblicks, kann stets nur kreieren, kann nur das Publikum im Hier und Jetzt erleben lassen. Da jedes Leben Zeit, Raum und Kausalität unterworfen ist, ist es bereits denklogisch unmöglich, Aufführungen von vor 50 Jahren könnten reproduziert werden.

Bereits bei der Walküre aus Salzburg von 2016 konnte man dies schnell bemerken. Das einzige, das aus der „legendären“ Walküre übernommen werden konnte, waren die Skizzen des Bühnenbildes. Bei den Lichtstimmungen versuchte man noch, sich zu orientieren. Die Personenführung hingegen – das konstituierende Element des Theaters – war verschollen. Stattdessen stülpte Frau Nemirova nachgemachten Bühnenbildern eine neue Inszenierung über. Die Behauptung, die Karajan-Walküre zu „reproduzieren“, kann mithin nicht eingelöst werden.

Die Fehlbezeichnung wird schnell offenbar, wenn man sich verdeutlicht, dass Theater niemals eine „reproduzierende“ Kunst sein kann. Theater ist eine vergängliche Kunst, ein Werk des Augenblicks. Theater kann nicht konserviert oder reproduziert werden. Jede Form der Konservierung (z.B. die Videoaufzeichnung und anschließende DVD-Veröffentlichung) ist ein eigenständiges Kunstwerk, eine Momentaufnahme einer Aufführung, die über Kameraführung und -winkel stark beeinflusst wird. Die Aufzeichnung ist ein Abbild einer Aufführung, aber nicht die Aufführung. Die Reproduktion einer Opernaufführung ist mithin nicht einmal über eine Videoaufzeichnung möglich, da auch damit ein eigenständiges Kunstwerk geschaffen ist, das ein schlichtes Abbild der früheren Aufführung darstellt. Selbst in einer Serie an einem Theater, bei der die gleichen Sänger, Musiker, Regie, Lichttechniker, Publikum usw. teilnehmen: Jede Aufführung findet zu einer anderen Zeit statt, die Musiker spielen anders, die Sänger singen und bewegen sich anders. Sie produzieren ein neues Kunstwerk.

Somit: Eine Opernaufführung reproduziert nicht etwa ein von dem Komponisten geschaffenes Werk – sondern produziert es erst (dies verkennt z. B. Borchmeyer). Die Partitur bietet nur die Grundlage für die eigentliche Aufführung, die die Musiker, Schauspieler, Bühnenarbeiter zum Leben erwecken müssen. Ohne die Aufführung bleibt nur das Papier – die Aufführung produziert somit die Werke des Komponisten.

Die „Reproduktion“ einer Inszenierung, deren Ablauf niemand mehr so genau kennt, ist damit ein reiner Etikettenschwindel. Aktuelle Regisseure schmuggeln Ihre eigene Regie in die Rekonstruktion eines Bühnenbildes. Das ist keine Wiederbelebung, es ist eine Neuschaffung. Eine in aller Regel unbedeutende Neuschaffung, da sich die Verhältnisse der Welt gegenüber der früheren Aufführung geändert haben und uns daher die neue Aufführung in alten Kleidern kaum mehr etwas sagen kann. Daher: Schafft Neues, Kinder, und bezeichnet es auch so!

Weiterlesen

Opernkritik: Die Meistersinger von Nürnberg, Bayreuther Festspiele 2017

Die neue Serie der »Meistersinger von Nürnberg« in Bayreuth ist ein Triumph für die Bayreuther Festspiele und eine musikalisch rundherum gelungene Aufführung, die wohl die ausgewogenste und beste Besetzung der letzten Jahre aufbieten konnte. So erwartet man es in Bayreuth, und man stellt erfreut fest, dass die Festspiel-Leitung um Katharina Wagner die Festspiele auf solch hohem Niveau festigen konnte. Selbst mit noch kleineren offenen Wünschen: Bayreuth muss bekanntlich Werkstatt bleiben und viele aktuelle Kritikpunkte werden sicherlich im Laufe der Aufführungsserie ausgeglichen werden.

Britische Studenten wollten sich 1964 nach Bayreuth durchschlagen, um den auf den Theatern der Insel üblichen „Stoffbühnenbildern und dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus“ zu entkommen. So berichtete Sir Peter Jonas in seiner Rede im Gedächtniskonzert für Wieland Wagner am 24.7.2017. Wer sowohl das Wieland-Konzert mit der brillanten Rede von Sir Peter als auch die Premiere der Meistersinger von Nürnberg am 25.7.2017 erlebt hat, fragt sich unweigerlich: Was sagt jemand zu dieser neuen Inszenierung, der vor dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus flüchtete? Die Antwort auf die Frage macht Barrie Kosky dem Zuschauer natürlich nicht leicht, da einerseits Butzenscheiben-Romantik und Puffärmel-Kostüme vorherrschen, andererseits der dem Werk inhärente Antisemitismus aufgezeigt wird und schmerzlich präsent bleibt.

Die »Meistersinger« haben in Bayreuth eine besondere Tradition und die Verantwortung für den Umgang mit dem Werk, das in den letzten Jahren des NS-Regimes ständig in Bayreuth gespielt wurde, ist immens. In „Neu-Bayreuth“ wurde das Werk stets durch Mitglieder der Wagner-Familie inszeniert, zuletzt war es Katharina Wagner, die eine originelle und des Werks Erbe ergründende Arbeit vorlegte. Nun ein australisch-jüdischer Operetten-Experte, der Wagners „komische Oper“ inszeniert. Die Akustik des Festspielhauses ist für die Meistersinger bekanntlich kaum geeignet, es bedarf besonderer Kenntnisse des Dirigenten. Gewonnen werden konnte Philippe Jordan, der vor wenigen Jahren bereits »Parsifal« dirigierte. Eine exzellente Wahl, das Dirigat von Jordan überzeugt durch Kurzweiligkeit, Energie, Spritzigkeit, aber ebenso Sicherheit, feine Dynamik, einen Sinn für den großen Fluss und den besonderen Klang des Festspielorchesters. Sicherlich gelingt noch nicht alles, so geht in der Ouvertüre noch einiges durcheinander und immer wieder fehlen die kleinen Abstufungen und Lautstärkedifferenzierungen. Aber es fügt sich zusehends zu einem wunderbar flüssigen Dirigat im dritten Aufzug. In der Werkstatt wird das Dirigat in den nächsten Jahren sicherlich umso bedeutender geschliffen werden. Mit dem exzellenten Orchester mag das problemlos gelingen.

Dass der Festspielchor einer der weltbesten Chöre ist, zeigt sich auch wieder in dieser Aufführung. Ihn noch zu loben, hieße Eulen nach Athen zu tragen. Die Dynamik, die Abstufungen, der Klang, die Farben und Schattierungen sind einfach sensationell. Vor allem die Lehrbuben machten musikalisch den ersten Aufzug zu einem besonderen Erlebnis. Die Solo-Rollen sind bis ins Kleinste hervorragend besetzt, von den präsenten Meistersingern über Georg Zeppenfeld als Nachtwächter (der leider nur aus dem Off singen darf) hin zu den großen Partien. Bei den Damen begeistert vor allem Wiebke Lehmkuhl als präsente, klug gestaltende und intensive Magdalene. Anne Schwanewilms startet als Eva etwas verhalten und klingt etwas zu „Cosima-haft“, auch in den beiden hochdramatischen Ausbrüchen gerät die erfahrene und kluge Sängerin leider an ihre Grenzen. Aber sie singt doch eine stets präsente und kluge Eva.

Eine interessante Besetzung des David ist Daniel Behle, der einen sehr präsenten David gibt, wobei man auf umso mehr Gestaltung mancher Szenen in den kommenden Aufführungen hofft. Günter Groissböck ist ein exzellenter, stimmgewaltiger und klangschöner Pogner. Derzeit dürfte es kaum einen Sänger geben, der die Rolle so präsent ausfüllen kann – grandios! Gleiches gilt für Johannes Martin Kränzle, der als Beckmesser einfach herausragend ist und mit Spielfreude und stimmlicher Präsenz begeistern kann. Besser geht es eigentlich kaum noch. Das gilt auch für den Stolzing von Klaus Florian Vogt, in der Rolle die ihm eigentlich noch besser als der Lohengrin liegt. Sein besonderes Timbre ist auch in den großen Ensembles und Chorszenen stets präsent und klar, ohne aufdringlich oder überdeckend zu sein. Vielleicht fehlt ihm etwas die Frische – aber vielleicht war er 2007 auch so besonders großartig, weil Katharina Wagner ihn damals besonders forderte und zu Höchstleistungen animieren konnte? Und Michael Volle! Er ist ein einfach sensationeller Hans Sachs! Startete er im ersten Aufzug noch etwas zurückhaltend und eher deklamierend, wurde er doch schnell warm und bot volle stimmliche Präsenz, Gestaltung und eine besondere Spielfreude. Je länger die Oper lief, umso besser und lebendiger wurde er. Volle wurde so zur Spitze des herausragenden Sängerensembles und schärfte die exzellente Sängerbesetzung.

Es bleibt die – nach der Premiere eifrig diskutierte – Frage, ob sich die Inszenierung denn nun auf Stoffbühnenbilder und dramaturgisch dürftigem Hyper-Realismus beschränkte oder eine intellektuelle und tiefgehende Auseinandersetzung mit diesem problematischen Stück darstellte. Nicht leugnen kann man die Ähnlichkeiten mit der letzten »Parsifal«-Inszenierung von Stefan Herheim, der die Bayreuther und Deutsche Geschichte über das Werk stülpte und im Schlussbild einer treu-teuschen Familie enden ließ. Auch bei Kosky sehen wir im bebilderten Vorspiel die Familie Wagner mit Freunden, aus denen sich die Darstellung des Werks entwickelt. Im Gesang der Gemeinde in der Katharinenkirche sehen wir die christlich betende Familie Wagner, die den Juden Levi zwingt, sich anzuschließen (der freilich den Ritus nicht kennt und alles falsch macht). Diese erste Szene ist schlicht grandios, da sie Wagners Antisemitismus und dessen belegten Verhalten gegenüber Levi mit dem problematischen Werk der Meistersinger verknüpft. Die Erwartungen für die restlichen fünf Stunden werden also hochgeschraubt.

Inszenierungen von Barrie Kosky zeichnen sich dadurch aus, dass er eine gute Balance zwischen unaufgeregter, handwerklich hervorragender Personenführung einerseits und im Gedächtnis haftenbleibender, schockierender Regie-Ideen changiert und einen klugen Übergang findet. (Ich denke z. B. an seine spannenden, symbolgeladenen Inszenierungen von »Walküre« und »Siegfried« in Hannover oder die genial-fesselnden »Tristan und Isolde« in Essen.) In der aktuellen Bayreuther Inszenierung legt Kosky den Fokus allerdings stark auf die unaufgeregte Personenführung und verbleibt bei der Darstellung und Interpretation zu oft im Abstrakten. Im engen Bild des 1. Aufzuges ist kaum Platz für Interaktion der Sänger, im weiten Bild des 2. Aufzuges ist zu viel Platz für deren Interaktion und im großflächigen Bild des 3. Aufzuges bleibt die Interaktion sehr abstrakt.

Die besonderen Akzente setzte Kosky als „Cliffhanger“ am Ende der Aufzüge: Im 1. Aufzug löst sich die Butzenscheiben-Romantik auf in den Saal der Nürnberger Prozesse. Im 2. Aufzug wird die Prügelfuge zum Pogrom der Nürnberger Bürger gegen den Juden. Stets möchte man also wissen, wie es weitergeht. Und stets geht es eigentlich nicht weiter. Im 2. Aufzug ist anscheinend Gras über die Nürnberger Prozesse und die Nazi-Zeit gewachsen. Ein treffendes Bild unserer heutigen Gesellschaft – doch warum sind die Charaktere dann weiterhin in Puffärmel-Kostüme gekleidet? Im 3. Aufzug spielt alles im voll ausgestatteten Gerichtssaal – aber warum, wird nicht wirklich klar. Die Rollen sind nicht klar verteilt nach Ankläger, Angeklagte, Verteidiger, Richter; vielmehr ist das Volk überall in allen Positionen, die Schusterstubenszene an zwei gesonderten Tischen an der vorderen Bühne mit unklarer Funktion. Auch der Schluss bleibt sehr im Ungefähren. Dass die heil’ge deutsche Kunst in unserer Musik statt in der Politik liegen sollte ist ja ein schöner Wunsch. Aber bleibt er nicht Utopie, angesichts eines Furtwängler, der Beethovens neunte Sinfonie auch in düstersten Zeiten dirigierte, angesichts eines Süd-Rhodesien, das die Neunte als Nationalhymne missbrauchte, angesichts der Möglichkeit, dass je nach Kontext und Kausalität auch ein C-Dur-Akkord rassistisch sein kann, angesichts des Missbrauchs von Wagners Erbe?

Für mich blieb Barrie Kosky in seiner Bayreuther »Meistersinger«-Inszenierung hinter seinen Qualitäten zurück. Natürlich hat er völlig Recht, dass Wagner der Figur des Beckmessers die typisch-antisemitischen Klischees seiner Zeit mitgab und dass der schwierige Text des Schlussansprache schrecklich missbraucht wurde. Gerade deshalb sollte man die im Werk enthaltenen Problematiken umso öfter und deutlich darstellen, statt sich die meiste Zeit auf Puffärmel-Kostüme im Nürnberger-Prozesse-Bühnenbild zu beschränken und über weite Strecken auf konventionelle Personenregie zurückzuziehen. Freilich beschränkt sich die Inszenierung nicht auf Stoffbühnenbilder und dramaturgisch dürftigen Hyper-Realismus – jedoch erlaubt sie das Missverständnis, dass sie sich darauf beschränken wollte.

 

Autor: Dr. Matthias Lachenmann

Weiterlesen

Tannhäuser und die alternative Personenführung (Bayerische Staatsoper, Premiere am 21.5.2017)

„Naja, hatten Sie denn bei Castellucci klassische Personenregie erwartet??“ fragt mich der Pressesprecher der Theaterakademie , Johannes Lachermeier, auf Twitter. Um das gleich zu beantworten: Ich hatte zum Glück keine Personenführung erwartet, da mir der szenische Arrangeur bereits bekannt war. Was allerdings eine „klassische“ Personenführung und was deren Gegenteil oder die moderne Variante sein soll, konnte mir nicht erklärt werden. Vermutlich ist das so etwas wie „alternative Fakten“.

Der neue Tannhäuser in München versprach eine sensationelle Sängerbesetzung und ein sowieso herausragendes Dirigat unter Petrenko. Da konnte einem die Inszenierung eigentlich egal sein. Aber die Aufführung zeigte exemplarisch, wie wichtig eine Personenführung auch für die Musik ist – denn ohne Inszenierung zerfasert das Dirigat und die Sänger können nicht alle Ihrer Fähigkeiten abrufen. Und so wurde die Tannhäuser-Premiere zur herben Enttäuschung.

Wer schon einmal eine Inszenierung von Castelucci gesehen hat, erwartet vieles – nur keine Personenführung. Das kann er nämlich nicht und es interessiert ihn schlichtweg nicht. Das könnte man dann auch „alternative Personenführung“ nennen. Es reicht ihm aus, ein paar pseudo-kraftvolle Bilder zu produzieren und ein paar Ballett-Tänzer rumhüpfen zu lassen. Castelucci studierte Bühnenbild und Malerei. Und das merkt man, denn mehr gibt es nicht in seinen Aufführungen. Die Sänger stehen einfach nur in der Gegend rum. Mit dem Chor (so viele Sänger!) kann er erst recht nichts anfangen und lässt sie von hinten nach vorne an die Rampe und wieder zurück gehen. Im 2. Aufzug bedürfte es ernsthafter Chorführung, da legt sich der Chor auf den Boden, wenn er nicht singen muss und steht auf und geht nach vorne, wenn er singen muss, anschließend legt er sich hinten wieder hin. Wenn mal agiert wird, passt das szenisch einfach nicht: die Sänger springen auf und rennen Richtung Vorderbühne kurz bevor Tannhäuser mitteilt, dass er im Venusberg war, nicht etwa nachdem der Chor das hört. Aber ist ja klar: der Chor muss gleich singen, dazu muss er halt schon vorher aufstehen.

Ähnlich allein gelassen werden die Solisten, die einfach nur an der Rampe stehen und runternudeln, was sie singen müssen. Fleischberg Venus steht auf der Stelle, Tannhäuser geht von rechts nach links neben ihr. Später stehen halt die Ritter neben Tannhäuser. Im 2. Aufzug stehen die Sänger neben einem Kasten aus Milchglas und singen. Im 3. Aufzug stehen zwei Särge auf der Bühne, die Sänger stehen neben, vor oder hinter diesen. Daraus folgt schnell das Problem: Es findet einfach keine Interaktion zwischen den Sängern statt, es werden einfach Text und Töne abgespult. Exemplarisch die zweite Szene des 2. Aufzugs, in der Elisabeth einfach Richtung Tannhäuser läuft, ohne dass die beiden miteinander reden würden. Oder das Ende des ersten Aufzuges, wo die Ritter immer Richtung Rampe singen, egal wen sie laut Text gerade ansprechen. Das ist so unfassbar billig und schlecht gemacht, dass man weinen möchte. Die Bebilderung (wow, Pfeile!; Igitt, Blut!) kann von diesem szenisch völligen Nichts nicht ablenken, auch das ist in keiner Weise tiefgründig oder durchdacht.

Die bayerische Staatsoper zeichnet sich ja seit Jahren durch völlig belanglose „Inszenierungen“ aus, in denen sich der internationale Sängerzirkus schnell einfinden kann – direkt aus dem Flugzeug einfach rauf auf die Bühne und rumstehen. Die Bühnenbilder sind austauschbar, eigentlich kann man jede neue Premiere im letzten Bühnenbild spielen, die Sänger stehen ja eh nur rum. Dass dafür die grandiose Alden-Inszenierung abgesetzt wird, ist eine kulturpolitische Schande.

Angesichts der großen Namen bei den Solisten erwartet man viel – aber zu Beginn hat Elena Pankratova ihre große Szene. Und sie singt zwar alle Töne, aber leider sehr verwaschen, breiig, ohne jegliches Textverständnis. Kein Wunder, dass sie den geringsten Applaus erhält. Besser als erwartet hingegen Klaus Florian Vogt, der natürlich seinem Stil treu bleibt und seine wunderbare, harmonische und melodische Stimme zur Geltung kommen lässt. Er ist kein „Haudrauf“ oder „klassischer Heldentenor“, sondern ein Mann der diffizilen, kleinen, detailgenauen Gestaltung. Manchmal fehlt sicherlich der „Wumms“, aber allein diese fantastischen Piani und Phrasierungen (das „Elisabeth“ zum Schluss! Das „erbarm‘ dich mein“!) suchen ihresgleichen und machen Vogts Tannhäuser zu einem echten Erlebnis. Großartig ist Georg Zeppenfeld als König Heinrich, ein sonorer Bass, perfekt textverständlich, stets präsent und phrasierend. Was soll man zu Anja Harteros sagen. Eine der derzeit weltbesten Sopranistinnen, was sie hier erneut unter Beweis stellt, hier passt einfach alles. Aber die Krone des Abends Christian Gerhaher als Wolfram, der Mann ist einfach sensationell. 100 Prozentige Textverständlichkeit, perfekte Phrasierungen und dennoch viel Kraft. Operngesang wird zu Liedgesang, es haut einen um. Und doch, trotz dieser tollen Sänger: Man hat den Eindruck, bei allen bleibt die Handbremse angezogen, es fehlen die Emotionen. Wenn Sänger einfach nur dumm rumstehen müssen und nicht agieren dürfen, dann fehlt einfach etwas. Aber vielleicht liegt es auch am Dirigat.

Petrenko dirigiert den Tannhäuser zum ersten Mal, und selbst ein so großartiger Dirigent muss erstmal reinkommen in ein Werk. Insofern ist es keine Kritik, sondern eine reine Feststellung, dass sein Tannhäuser die nächsten Jahre sicherlich noch viel besser wird. Das Orchester ist glänzend aufgelegt, gewohnt klar, rein und deutlich, wunderbare Soli und Piani. Aber doch fehlte mir der große Bogen, es waren viele schöne Einzelmomente, die oft für sich standen. Teils zu getragen, teils zu laut, teils zu abrupt. Vielleicht auch hier: wenn szenisch nichts passiert, bleibt schnell auch das Orchester im ungefähren. Sicherlich war es schon ein sehr gutes Dirigat. Und mit der Zeit wird es zu einem großartigen werden.

Es bleibt das – hier: traurige – Fazit, dass Szene und Musik nunmal zusammengehören, ineinander übergehen, und sich gegenseitig zu Höhen oder – hier: – Tiefen führen können. Eine alternative Personenführung ist halt keine Personenführung und eine zähe Masse eine zähe Masse, die selbst Wagners großartige Musik zäh wirken lassen kann.

 

Weiterlesen

Tristan und Isolde – die Handlung

„Es ist ein Irrtum zu denken, Tristan und Isolde würden am Ende der Oper sterben. Denn es wäre bereits ein Irrtum, die Existenz der beiden Protagonisten zu bejahen. Wenn man den Grund für diese Aussage erkannt hat, ist die Interpretation von Richard Wagners „Handlung“ Tristan und Isolde fast schon simpel (trotz der verschiedensten Interpretationsansätze unter Wagnerianern, Forschern und Opernkritikern).“

Die Handlung und Interpretation von Wagners Oper „Tristan und Isolde“ beschreibe ich in einem Beitrag für die Homepage des Richard-Wagner-Verbands International e.V.

Abrufbar unter diesem Link.

Weiterlesen

Opernkritik: Lohengrin am Aalto Theater Essen

Das menschliche Wesen ist das Ensemble seiner gesellschaftlichen Verhältnisse, wie Marx in seiner 6. These über Feuerbach schrieb. Ein Gedanke, der Wagners Opern immanent ist und sich auch im Lohengrin zeigt: Lohengrin unterliegt dem Zwang, jeder menschlichen Frau das Frageverbot aufzuerlegen und nach seinem Erkennen zurückzukehren. Elsa muss nach Nam‘ und Art fragen, da eine Beziehung anders nicht möglich ist. So ist das tragische Ende dem Beginn des Lohengrins schon immanent.

Ausweglose Situationen sehen wir regelmäßig in Tatjana Gürbacas Neuinszenierung am Aalto-Theater in Essen. Für Elsa wird der Scheiterhaufen schon bereitet, das Volk hat sein Urteil schon gesprochen: Hexe! Mörderin! Lohengrin erscheint mit einem Jungen, der die meiste Zeit präsent bleiben wird – Gottfried entstellt, unerkannt. Die Welt ist aus dem Fugen, die Treppen unnatürlich groß, die Gebäude unnatürlich klein. Die Treppe (eine Remiszenz an den Panzerkreuzer Potemkin?) bleibt das bestimmende Bühnenbild, das jedoch im Laufe der Aufführung aufgebrochen und gewandelt wird. Zum Schluss landen wir wieder bei einem (abgebrannten) Scheiterhaufen.

In einem solchen Rahmen erzählt Gürbaca die Geschichte des Lohengrin stringent, mit überzeugender und handwerklich klarer Personenführung. Große „Zumutungen“ bleiben aus, kleine gibt es durchaus. Das Überwältigen von der Musik wird einem immer wieder verleidet, z. B. wenn im Soldatenaufmarsch des dritten Aufzuges ein Soldat psychisch zusammenbricht oder Gottfried als vermeintlicher Sohn Lohengrins das Näherkommen der Protagonisten verhindert. Überhaupt ist Lohengrin sehr zurückhaltend im Gralsgemach, Elsa zu Beginn die aktive. Das ändert sich abrupt – die Personen finden nicht zusammen. Solche Szenen bleiben doch punktuell, in der Gesamtheit bleibt die Erzählung (zu) brav und nahe am Text. Aber Gürbaca nimmt die Personen ernst und plädiert – ganz im Sinne Wagners Orientierung an dem Figurenverständnis des Sophokles – für Verständnis aller Charaktere. So ist beispielsweise Ortrud nach dem Zwischenspiel des 3. Aufzuges auf der Bühne und muss den Schock des Tods ihres Gatten vor allem Volk erleiden.

Musiziert wird auf sehr hohem Niveau. Das Orchester ist unter Leitung von Tomáš Netopil exzellent und überzeugt mit erstklassigem Wagner-Klang. Er arbeitete sauber und vermag viele Akzente zu setzen, so dass ein großartiger Wagner-Abend schon im Vorspiel versprochen und gehalten wird. Bei den Sängern überzeugen vor allem die „Bösen“: Heiko Trinsinger als Telramund überzeugt mit kernigem Timbre und hörbar gemachter Verzweiflung. Katrin Kapplusch als Ortrud singt und spielt stets präsent, wenn auch vielleicht etwas zu lyrisch. Martijn Cornet als Heerufer ist ein präsenter und aktiver Heerufer, wie Almas Svilpa einen soliden König Heinrich gibt. Daniel Johansson startet sein Rollendebut als Lohengrin noch etwas unter Druck, aber vermag mit einem rundem Timbre und aktiver Gestaltung überzeugen. Jessica Muirhead als Elsa überzeugt vor allem in der Mittellage und Tiefe mit einem wunderschönen, runden und warmen Sopran, in dem man versinken möchte (in den Höhen wird es dann etwas zu metallisch). Abgerundet wird die Aufführung durch den exzellenten Chor!

Nicht unerwähnt bleiben soll der Einführungsvortrag des Produktionsdramaturgen Markus Tatzig, der sich nicht – wie allzu oft an Opernhäusern – auf eine Erzählung der Geschichte beschränkt, sondern kenntnisreich in Entstehungsgeschichte und Interpretation des Werkes einführt. Insgesamt eine lobenswerte Lohengrin-Aufführung, die Wagnerianern als der Region sehr empfohlen sei!

Weiterlesen

Rezension: Alain Badiou: „Fünf Lektionen zum ‚Fall‘ Wagner“

Alain Badiou wird derzeit in der Szene der Forschung zu Richard Wagner gefeiert wie kaum ein zweiter Autor. Groß sind daher die Erwartungen des Lesers an die Broschüre, die ausgehend von der Beschreibung und Würdigung verschiedener bedeutender Wagner-Interpreten für eine „kritische Hinterfragung von Wagners Schaffen“ plädieren will. Im Vorwort nennt Badiou drei Personen, die für das Entstehen des Buches maßgeblich verantwortlich seien, neben François Nicolas die englische Übersetzerin Susan Spitzer, die „Mitautorin des […] Buches ist“, sowie Isabelle Vodoz, die die französische Fassung erstellt habe. Beim Lesen des Buches merkt man schnell, dass der deutsche Übersetzer Thomas Laugstien zu Recht im Vorwort nicht als Mitautor genannt wird, da er es nicht vermochte (was freilich die Aufgabe des Autors, nicht des Übersetzers ist), aus Badious Vortragsform ein halbwegs lesbares Buch mit ordentlichem Satzbau zu erstellen.

Weiterhin merkt man bereits im Vorwort, dass Badiou mit einem gesunden Selbstbewusstsein gesegnet ist, wenn er Slavoj Zizek als „den anderen großen Wagnerianer der heutigen Philosophie-Szene“ bezeichnet. Angesichts der von Badiou selbst geweckten hohen Erwartungen wird der Leser schnell ernüchtert. Dies beginnt bei völlig banalen Aussagen einerseits („Aus all diesen Gründen bin ich der Meinung, dass wir, als Einleitung, den Gedanken festhalten können, dass die Musik für den Zusammenhang zwischen Kunstformen, im weitesten Sinne, und weltanschaulichen Tendenzen oder Resonanzen eine besondere Rolle gespielt hat“, S. 15) und bloßen Behauptungen unter Verzicht auf Argumentation andererseits (S. 22: „Ich möchte hier nur daran erinnern, weil es nicht zu bestreiten ist, […]“). Es endet bei einem Verzicht auf die Ausarbeitung der anspruchsvollen Fragen (S. 26: „Das beweist natürlich, dass man genauer hinsehen muss, dass man untersuchen muss, worin die Totalisierungen bestehen, und begreifen muss, was Totalisierung im Werk Wagners bedeutet. Das ist ein ganz anderes Unternehmen“; ebenso z.B. S. 49, 54 oder 57).

Die eigentliche Ernüchterung des Lesers beruht auf Badious Verzicht auf die Definition der von ihm verwendeten Begriffe. Indem er gleichlautende Begriffe in mehreren Bedeutungen anwendet, ohne eine Bedeutung zu definieren oder im Verlaufe des Textes deutlich zu machen, in welcher Bedeutung er den Begriff verwendet, mag er dem Zuhörer der Vorlesung den Eindruck eines hoch-intellektuellen Beitrages vermitteln, da im gesprochenen Wort der mangelnde Aufbau nicht so deutlich wird. Ein Leser hingegen kann die Aussagen durch mehrmaliges Lesen überprüfen und wird so schnell feststellen, dass der Autor schlichtweg auf klare Definitionen und eindeutige Verwendungen von Begriffen verzichtet.

Intellektuell klingende Texte entpuppen sich so schnell als heiße Luft. So findet der Leser eine erste klar erkennbare Definition auf S. 57 (zur kantischen Idee der Rezeptivität). Vorher findet man das vereinzelte Bemühen von Definitionen, so bspw. auf S. 38: „[Die negative Dialektik] ist also ein wahrhaft philosophisches Werk, wenn man zugesteht, dass jedes philosophische Werk der Philosophie eine neue Stellung zuweist.“ Die Bestimmung eines philosophischen Werks kann der Leser immerhin für sich selbst vornehmen. Hingegen wüsste man beispielsweise gerne, was Wagners und Philippe Lacoue-Labarthes Beschreibung des „Gesamtkunstwerks“ war, bevor Badiou seine eigene Meinung dazu andeutet.

All diese Kritikpunkte würde man gerne vergessen, wenn man inhaltlich Überzeugendes über Wagner und dessen Rezeption erfahren würde. Doch selbst hier finden sich viele bedenkliche Aussagen. So ist es bereits zweifelhaft, ob Wieland Wagners Inszenierungsstil „(abgesehen von Protesten aus dem konservativen bayerischen Bürgertum) sofort positiv aufgenommen [wurde], und zwar aus ästhetischen Gründen“ (S. 16 ff.). Umso zweifelhafter ist es, ob Wieland Wagner tatsächlich die Aufführungen „völlig von jedem Bezug auf nationale Mythologie zu befreien“ suchte und er „die Inszenierung […] völlig verändert[e]“. Immerhin zeigt bereits der Vergleich der Bühnenbilder, dass sich Wieland Wagner einerseits stark an Adolphe Appia anlehnte, also keineswegs so originell war, wie unterstellt wird, andererseits seine Monumental-Ästhetik von der Nazi-Ästhethik  nicht weit entfernt war. Hier würde man sich eine differenziertere Darstellung, statt der Wiederholung der sattsam bekannten Klischees wünschen

Schlicht fehlerhaft wird es, wenn Badiou den „wirklichen Wagner“ sucht. Während Lacoue-Labarthe treffend beschreibt, dass Gegenstand seiner Schriften „nicht Wagner selbst, sondern seine Wirkung“ sei, meint Badiou die Suche nach einem Verständnis Wagners damit begründen zu müssen, dass „man in der Tat zu einem Verständnis Wagners gelangen kann – oder wissen kann, was sich unter diesem Namen verbirgt –, wenn man von seiner Wirkung ausgeht“ (S. 21). Hier übersieht Badiou, dass es für die Nachwelt schlicht zwingend ist, von der Wirkung des Werks (nicht des bloßen Namens!) auszugehen, da eine tote Person niemals selbst Gegenstand einer Beurteilung werden kann. Als rezipierendes Lebewesen kann niemand wissen, was sich hinter einem Namen verbirgt, da dies eine objektive – von Zeit und Raum unabhängige – Festlegung erfordern würde. Für einen Zeit und Raum unterworfenen Menschen muss daher zwingend verborgen bleiben, was sich hinter einem Namen verbirgt – man kann nur von der Wirkung des Künstlers ausgehen. Badiou hätte zu Lacoue-Labarthes kluger Aussage besser geschwiegen.

Weitergehend hätte Badiou auf S. 54 besser nicht offen gelassen, wie es sich mit dem „Schein“ – gerade bei Wagner – verhält. Dann wäre er auf interessante Fragen gestoßen, die Wagner in Tristan und Isolde tiefgreifend behandelte. Aber die Beschäftigung mit dem Werk Wagners bleibt oberflächlich. So meint Badiou auf S. 52, „vergebliches Warten [ist] ein zentrales Wagnermotiv“, das sogar „zwei Drittel der Handlung im dritten Akt von Tristan und Isolde beherrscht“. Die Behauptung könnte stimmen, würde man das „vergeblich“ streichen. Man höre nur auf die Musik in Isoldes Verklärung, nach ihrer Wiederkehr zu Tristan oder lese ihren Text, in dem sie den bei ihr seienden, lebenden Tristan beschreibt.

Badiou kritisiert an Lacouee-Labarthes Werk „Musica ficta“, man habe nach dessen Lektüre “ob man will oder nicht, eine bestimmte Vorstellung von Wagner, weil es, recht besehen, letzten Endes eben doch Wagner ist, von dem dieses Buch handelt“. Mit den „Fünf Lektionen zum ‚Fall‘ Wagner“ läuft man nicht Gefahr, eine bestimmte Vorstellung von Wagner oder dessen Rezeption zu erhalten.

Der Autor, Dr. Matthias Lachenmann, ist Mitglied im Präsidium des Richard-Wagner-Verbands International e.V. Der Beitrag gibt nur seine persönliche Meinung wieder. Die Rezension bezieht sich aus zuvor genannten Gründen nur auf die ersten beiden „Lektionen“.

Weiterlesen

Die Meistersinger von Nürnberg, Staatsoper München, die Premiere am 16.5.2016

In den Boxring gelangen die Meister über eine kleine Treppe, um sich dort im Sängerstreit zu messen. Wenn man das zu Beginn des 1. Aufzuges sieht, scheint nach wenigen Minuten klar: Beckmesser wird die Treppe im 3. Aufzug hoch steigen, wird stolpern und wird sagen „wie wackelig, macht das schön fest“. Doch es kommt anders: Beckmesser singt die Stelle in die Luft hinein bevor er an die Treppe kommt – um erst danach über eine defekte Stiege zu stolpern. Das war es dann an Überraschungen in dieser Neuinszenierung der „Meistersinger von Nürnberg“, die David Bösch inszenierte. Wenn David ganz am Schluss in den Meistersinger-Pokal kotzt und Stolzing nach der Ansprache ohne Meisterwürde wegrennt, ist das die erste und letzte Interpretation in dieser sonst biederen Erzählung. Ansonsten wird man gelangweilt durch ein leicht modernisiertes Erzählen der Geschichte und dem Schwelgen im Kitsch, ohne eine bemerkenswerte Personenführung (immerhin gab es eine!) bieten zu können.

Ziel der Neuproduktion war wohl schlicht, den großen Sängernamen einen neuen Rahmen zu geben. Trotz beeindruckender Besetzungsliste wird der Star des Abends jedoch ein anderer sein: Kirill Petrenko wird mit Jubelstürmen überschüttet – durchaus zu Recht. Das Orchester der bayerischen Staatsoper ist einfach wunderbar und begeistert unter Petrenko mit einem klaren, präzisen, warmen Klang. Petrenko begeistert mit der gewohnt-akribischen Partitur-Arbeit, einer zackigen Ouvertüre und dem Verdeutlichen einzelner Notenlinien (die Tuben! die Pauken!) und macht die Aufführung zu einem echten Erlebnis. Dabei ist nicht alles perfekt, immer wieder wirkt die Handbremse angezogen und die Emotionen zurück gefahren (z.B. der Aufmarsch der Zünfte im 3. Aufzug) – aber das wird wieder wettgemacht durch viele besonders großartige Stellen (z.B. das vom wunderbaren Chor ewig gehaltene „Wach auf“). Ein in dieser Präzision nur selten zu hörendes Ereignis, das den Besuch bereits lohnt.

Die Sänger bieten, was man erwartete. Das gilt insbesondere für das szenische Rollendebüt von Jonas Kaufmann als Walther von Stolzing, der überbewertet ist wie kein anderer Sänger des internationalen Opernzirkus. Zwar schafft Kaufmann es inzwischen, sich gegen Chor und Orchester zu behaupten – leider, ist man versucht zu sagen. Denn so hört man das gaumige, kehlige, gepresste und nur unter großem Druck ansprechende in seinem Bariton umso deutlicher. So ist es kein Wunder, dass Kaufmann immer wieder die Vokale verfärbt und ihm die Töne verrutschen, insbesondere im 3. Aufzug, in dem ihm die Kräfte größtenteils verlassen. Die Dichtung des Preisliedes in der Schusterstube ist kaum zu ertragen und das – sowieso schon wackelnde – Quintett wird immer dann besonders schlimm, wenn Kaufmann wieder reinblökt. Aber das schlimmste an Kaufmann ist, dass ihm die Höhe völlig abgeht, er über die Mittellage einfach nicht hinauskommt, nichts frei fließt.

Ansonsten ist ein Sänger besser als der andere, bis hin in die kleinen Rollen. Das beginnt bei Tareq Nazmi als Nachtwächter, der mit einer sonoren, ausdrucksstarken, kräftigen und wortdeutlichen Stimme begeistert – von ihm wird man sicherlich noch viel hören – und endet bei Wolfgang Koch als stimmgewaltigen und nie ermüdenden Hans Sachs. Klar ist nicht alles perfekt bei Koch, manchmal rettet er sich in Sprechgesang oder er kommt nicht auf die Töne, aber das stört keineswegs angesichts der Gesamtleistung und des ausdrucksstarken Gesamtportraits. Erstklassig auch Christoph Fischesser als präsenter, absolut textverständlicher und emotionaler Pogner – großartig! Eike Wilm Schulte ist ein hervorragender Fritz Kothner, der der Rolle die nötige Präsenz verschafft und Markus Eiche ein stimmschöner und ausdrucksstarker Beckmesser. Eiche ist ein großartiger Sänger, auf dessen weitere Karriere man sich freuen kann. Benjamin Bruns ist als David ebenfalls sehr präsent. Besonders begeistern konnten zudem die beiden Damen in den schwierigen Hauptpartien. Okka von der Damerau als Lene zu loben, heißt in München Eulen nach Athen zu tragen. Ihre weiche, runde Stimme verfügt stets über die nötige Präsenz und wertet die Rolle zu einer echten Hauptpartie auf. Mir bis dato unbekannt war Sara Jakubiak– was für eine großartige Eva! Eine kräftige, volle, sicher geführte Stimme, die die Partie stets souverän im Griff hat und auch mitreißend spielt.

So bietet die Aufführungsserie eine musikalisch exzellente Darbietung, die nur getrübt wird durch die banale und nichtssagende Inszenierung. Man fragt sich (wie so oft in der Intendanz Bachler), warum die alte Inszenierung durch eine neue ersetzt wird. Nötig ist das eigentlich nur, wenn man etwas zu sagen hat und es nötig wäre, Neues zu schaffen. Wenn man die letzte nette und erzählende Inszenierung absetzt, braucht man diese nicht durch eine ebenso erzählende und ansonsten noch banalere Inszenierung ersetzen. Bachler wird wohl nach seiner Amtszeit für zwei Dinge in Erinnerung bleiben: Dass er Petrenko am Haus halten konnte (zweifelsfrei ein Verdienst sondergleichen) und dass er szenisch nur ein volles Haus erreichen möchte und dabei das Niveau bodenlos absenkt. Immerhin regte sich diesmal mehr Widerstand im Publikum als bei sonstigen Premieren, in denen das szenische Nichts meist resigniert hingenommen wurde.

Dr. Matthias Lachenmann

Weiterlesen

Opernkritik Bayreuth 2015: Tristan und Isolde

Sinnbildlich für Katharina Wagners Regiekonzept in ihrer Neuinszenierung Tristan und Isoldes in diesem Jahr kann das Bühnenbild des dritten Aufzugs stehen: viel Theaternebel im Dunkel, ab und zu durchbrochen von einzelnen Lichtblicken. Wer nach Katharina Wagners kurzweiligen, klugen und spannenden Meistersingern ähnliches erwartet hatte, wurde enttäuscht: Diesmal wurde biedere Hausmannskost einer mittelmäßig begabten Regisseurin geboten, eine Inszenierung, die die Musik nicht stört (wie das ja viele gerne haben und so Wagners Gesamtkunstwerk verkennen), mit doch handwerklichen Mängeln. Wenn man den Unmut vieler Festspiel-Mitwirkenden über die künstlerische Leitung des Hauses hört und dies mit der Inszenierung vergleicht, würde man sich doch wünschen, dass Katharina all Ihre Energie in Ihre Tätigkeit als Leiterin steckt und begabteren Regisseuren das Feld überlässt.

Aber die Wagnerianer waren begeistert, bei Katharinas kurzem Auftritt zum Schluss gab es einhelligen Jubel – wohl die Freude darüber, dass es szenisch wenig zu denken und viel zu hören gab. Im 1. Aufzug sehen wir ein beeindruckendes Treppen-Labyrinth, das die Suche nach Wegen zueinander, ebenso wie die versperrten Pfade, eindrücklich darstellt. Aber eine solche Metaphorik ist für den gesamten Aufzug zu wenig, wenn dadurch eine Personenregie fast vollständig verhindert wird. Im zweiten Aufzug tänzeln die Sänger um wildgewordene Fahrradständer herum, die Regie wirkt hektisch und teils unbeholfen. Aber die Musik trägt das locker. Der dritte Aufzug gelingt noch am besten: Tristan erscheinen in seinen Fieberträumen verschiedene und verscheidende Isolden. Der statische Auftritt Markes wirkt hingegen unfreiwillig komisch. Wenn Katharina Tristans Satz „So waren wir Nachtgeweihte“ als Beweis nimmt, dass der Traum Tristan und Isoldes ihrer Vereinigung nicht wahr werden kann in der Tag-Welt, scheint sie die Oper nicht verstanden zu haben. Denn im Duett des zweiten Aufzuges wird nur allzu deutlich, dass die Protagonisten das Wort „Tod“ umdefinieren und so zur Erkenntnis des Irrtums der Subjektivität und des Eins-Sein mit dem Welt’ Atems glühenden All kommen.

Sängerisch ist der Abend exzellent, eine fast durchweg gelungene Premiere. Dies beginnt bereits in den kleinen Rollen, die durchwegs hervorragende besetzt sind – zu loben insbesondere Raimund Nolte als klangschöner Melot. Auch in den Hauptrollen nur eine kleine Einschränkung. Allen voran begeisterte Stephen Gould als kraftvoller, ausdrucksstarker, ausdauernder Tristan, der die Partie wie derzeit kaum ein zweiter singt. Auch im dritten Aufzug bleiben ihm bis zum Schluss scheinbar unermessliche Kraftreserveren. Leider wird Goulds differenzierte Gestaltung durch Evelin Herlitzius zu oft erdrückt, die sich reichlich laut und schreiig durch die Partie kämpft. Ihre Bühnenpräsenz ist unbestritten, ihre Piani und Mittellage beeindruck durchaus. Aber immer wenn sie laut wird, bleibt jede musikalische Schönheit auf der Strecke. Vermutlich wäre Anja Kampe die deutlich bessere Wahl gewesen.

Die Krone des Abends gebührt aber Georg Zeppenfeld, der mit völliger Textverständlichkeit, ausgiebiger Gestaltungskraft und seinesgleichen suchende Präsenz den Marke zum Highlight der Aufführung macht. Dies wird unterstützt von seiner angenehm leichten, aber überaus tragfähigen Stimme. Einer der herausragenden Bässe unserer Zeit. Überzeugen können auch Ian Paterson als ausgesprochen klangschöner, balsamischer und ausgiebig-gestaltender Kurwenal und Christa Mayer als hervorragende Brangäne, die (nach dem aufwärmen in den ersten Minuten) sehr präsent und kraftvoll überzeugte.

Fast könnte man also sagen, es wäre eine musikalisch sensationelle Aufführung gewesen – wenn da nicht das Dirigat Christians Thielemanns gewesen wäre. Keine Frage, es war sehr gut dirigiert: die Einsätze passten, das Orchester klangschön und wie bekannt qualitätsvoll und einige Stelle gelangen berührend. Aber im Vergleich zu den Jubelhymen, die ihm überall zukommen, war da doch noch reichlich Luft nach oben. Vor allem nervte Thielemann mit seinen bekannten Marotten: Der große Bogen der Partitur scheint ihn weniger zu interessieren als das Herausstellen kitschiger Einzelstellen. Stets hat man das Gefühl, Thielemann interessiere sich nur für den Effekt des Moments. So beispielsweise, wenn er ganz zum Schluss die Oboe nochmals völlig überdehnt und so den Schluss völlig zerstört. Auch könnte man seinen Einbau ständiger Generalpausen verschmerzen, wenn diese wenigstens eine innere Spannung aufweisen würde (wie es z.B. im 2. Aufzug Tannhäuser noch der Fall war) – im Tristan wirken die Generalpausen aber so, als ob jemand die Pause-Taste der CD gedrückt hätte und dann wieder auf Play drückt. Nach diesem Abend musste man sich fragen, ob es nicht besser für die Zukunft Bayreuths gewesen wäre, wenn Thielemann einen Posten in Berlin erhalten hätte.

Dies ist natürlich eine Einschränkung auf hohem Niveau und insgesamt bleibt diese Tristan und Isolde Aufführung ein Garant für ein volles Haus im Programm. Allerdings gibt es nunmehr szenisch jede Menge gepflegte Langeweile in Bayreuth: Tristan und Holländer, zu befürchten auch bei Laufenbergs Parsifal und  Hermanis Lohengrin. Der Elan der letzten Jahre, Bayreuth zu einem Hort des aktuellen, intelligenten und mit der Zeit gehenden Theaters zu machen – in einer Zeit, in der auch große Opernhäuser der Verflachung und Eventkultur frönen und möglichst langweilige Inszenierungen als Markenzeichen sehen – scheint erloschen. Möge uns das Feuer des Rings noch lange begleiten und Barry Kosky die Erwartungen erfüllen.

Weiterlesen